23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)
Chancengleichheit ist für all jene bedeutungslos, die nicht die Möglichkeit haben, sie auch zu nutzen.
Der außergewöhnliche Fall des Alejandro Toledo
Heute hindert kein Land mehr arme Kinder absichtlich am Schulbesuch, aber viele Kinder in armen Ländern können nicht zur Schule gehen, weil sie nicht das Geld für die Unterrichtsgebühren haben. Zudem weisen arme Kinder selbst in Ländern mit staatlich finanziertem Schulsystem unabhängig von ihrer Begabung regelmäßig schlechte Zensuren auf. Viele müssen zu Hause hungern und auch die Schulspeisung mittags auslassen. Dadurch wird es ihnen unmöglich, sich zu konzentrieren, mit vorhersehbaren Folgen für ihre Bildungslaufbahn. In Extremfällen sind sie durch einen Nahrungsmangel in frühester Kindheit sogar in ihrer Entwicklung zurückgeblieben. Diese Kinder leiden regelmäßiger an Krankheiten und brechen dadurch häufiger die Schule ab. Wenn ihre Eltern Analphabeten sind und/oder bis spät am Abend arbeiten müssen, hilft diesen Kindern niemand bei den Hausaufgaben. Kindern der Mittelschicht helfen die Eltern, reiche Kinder haben vielleicht sogar einen Privatlehrer. Ob sie Hilfe erhalten oder nicht, spielt aber keine Rolle, wenn sie nicht einmal ausreichend Zeit für die Hausarbeiten haben, weil sie auf jüngere Geschwister aufpassen oder die Ziegen der Familie hüten müssen.
Wenn wir nicht in Kauf nehmen wollen, Kinder dafür zu bestrafen, dass sie arme Eltern haben, sollten wir sicherstellen, dass alle Kinder ein Minimum an Nahrung, gesundheitlicher Vorsorge und Hilfe bei den Hausaufgaben erhalten. Vieles davon kann die öffentliche Hand bereitstellen – kostenlose Schulspeisung, Impfungen, grundlegende medizinische Untersuchungen und nach der Schule ein wenig Hilfe bei den Hausaufgaben durch Lehrer oder von der Schule angestellte Tutoren. Die Schule kann hier aber nur begrenzt Hilfe anbieten. In manchen Dingen ist nach wie vor das Elternhaus gefragt.
Dies bedeutet, dass es hinsichtlich des Elterneinkommens eine minimale Ergebnisgleichheit geben muss, wenn man armen Kindern wenigstens den Hauch einer fairen Chance bieten will. Ansonsten können auch kostenlose Schulspeisung, Impfungen und so weiter keine echte Chancengleichheit für die Kinder herstellen.
Auch in der Welt der Erwachsenen ist ein gewisses Maß an Ergebnisgleichheit vonnöten. Es ist bekannt, dass jemand, der einmal längere Zeit arbeitslos war, große Schwierigkeiten hat, in den Arbeitsmarkt zurückzufinden. Ob jemand seine Arbeit verliert oder nicht, hängt aber nicht ausschließlich vom »Wert« der betreffenden Person ab. Zum Beispiel verlieren viele Menschen ihren Arbeitsplatz, weil sie in einem Industriezweig tätig geworden sind, der anfangs gute Aussichten bot, inzwischen aber mit einer unerwarteten Zunahme ausländischer Konkurrenz zu kämpfen hat. Amerikanische Stahlarbeiter oder britische Werftarbeiter, die 1960 ins Erwerbsleben eingetreten sind, konnten nicht vorhersehen, dass ihre Industrie Anfang der Neunziger von japanischen und koreanischen Wettbewerbern praktisch ausradiert werden würde. Dies gilt für viele andere Bereiche entsprechend. Ist es wirklich gerecht, dass diese Menschen unverhältnismäßig leiden müssen und schließlich auf dem Müllhaufen der Geschichte landen?
Auf einem idealen freien Markt wäre das freilich kein Problem, weil die amerikanischen Stahlarbeiter und britischen Werftarbeiter neue Jobs in anderen, wachsenden Industriezweigen finden könnten. Doch wie viele ehemalige amerikanische Stahlarbeiter kennen Sie, die auf Computertechnik umgesattelt haben, wie viele britische Werftarbeiter, die heute als Investmentbanker tätig sind? Solche Quereinsteiger sind äußerst selten.
Wesentlich gerechter wäre es gewesen, den entlassenen Arbeitern dabei zu helfen, sich eine neue berufliche Existenz aufzubauen, etwa durch ein angemessenes Arbeitslosengeld, eine Krankenversicherung, die bei Arbeitslosigkeit nicht erlischt, Weiterbildungsmaßnahmen und Hilfe bei der Arbeitssuche. Insbesondere in den skandinavischen Ländern funktioniert das sehr gut. Auch unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten kann dieser Ansatz wesentlich produktiver sein, wie ich an anderer Stelle in diesem Buch darlege (Nr. 21).
Ja, theoretisch kann ein Schuhputzjunge aus einer armen Provinzstadt in Peru nach Stanford gehen und einen Doktortitel erwerben, wie es der ehemalige peruanische Präsident Alejandro Toledo getan hat, doch auf einen Toledo kommen Millionen peruanischer
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