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23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)

23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)

Titel: 23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ha-Joon Chang
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Akzeptanz genießen. Eine Ursache dafür ist das schwächere Wohlfahrtssystem in den USA. In Europa (freilich, ohne auf die nationalen Unterschiede im Detail einzugehen) ist es zwar ein schwerer Schlag, wenn ein Industriezweig in eine Krise gerät und man seinen Job verliert, doch es ist nicht gleich das Ende der Welt. Man behält trotzdem seine Krankenversicherung und seine Sozialwohnung (oder bekommt Wohngeld), erhält Arbeitslosengeld in Höhe von bis zu 80 Prozent des letzten Arbeitsentgelts und hat ein Recht auf staatlich geförderte Weiterbildungsmaßnahmen und Hilfe bei der Arbeitssuche. Wenn man hingegen ein amerikanischer Arbeitnehmer ist, sorgt man besser dafür, dass man seinen Arbeitsplatz behält (wenn nötig auch durch Protektionismus), denn wenn man seinen Job verliert, verliert man damit meist auch alles andere. Das Arbeitslosengeld ist nur unzureichend und zudem von kürzerer Dauer als in Europa. Staatlich geförderte Umschulungsmaßnahmen oder Hilfe bei der Arbeitssuche sind rar. Noch größere Sorge bereitet, dass der Verlust des Arbeitsplatzes auch den Verlust der Krankenversicherung und möglicherweise sogar des Zuhauses mit sich bringt, weil es kaum Sozialwohnungen und Wohnzuschüsse gibt. Folglich ist der Widerstand der Arbeitnehmerschaft gegen industrielle Restrukturierungsmaßnahmen, die mit der Streichung von Arbeitsplätzen verbunden sind, in den Vereinigten Staaten viel größer als in Europa. Die meisten amerikanischen Arbeitnehmer sind nicht in der Lage, organisierten Widerstand zu leisten. Diejenigen aber, die es können – die gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer -, versuchen begreiflicherweise alles, um die bestehende Arbeitsplatzverteilung nach Möglichkeit zu erhalten.
    Wie das obige Beispiel zeigt, kann größere Unsicherheit dazu führen, dass die Beschäftigten härter arbeiten, aber es drängt sie in die falschen Jobs. All diese begabten jungen Koreaner, die brillante Wissenschaftler oder Ingenieure hätten werden können, brüten nun über der menschlichen Anatomie. Viele US-Arbeitnehmer, die – freilich nach entsprechender Umschulung – in sogenannten »Sonnenaufgangsindustrien« arbeiten könnten, klammern sich hartnäckig an ihre Jobs in »Sonnenuntergangsindustrien« (zum Beispiel der Automobilindustrie) und zögern das Unvermeidliche doch nur hinaus.
    Aus all diesen Beispielen lässt sich folgender Schluss ziehen: Wenn die Menschen wissen, dass sie eine zweite (oder dritte und sogar vierte) Chance bekommen, nehmen sie Risiken bei der Berufswahl oder bei der Aufgabe ihres momentanen Jobs wesentlich leichter in Kauf.
    Erscheint Ihnen diese Logik seltsam? Das braucht sie nicht. Es handelt sich nämlich exakt um die Logik hinter dem Insolvenzrecht, das die meisten Menschen als »einleuchtend« akzeptieren.
    Vor Mitte des 19. Jahrhunderts gab es noch nirgends ein Insolvenzrecht im modernen Sinn. Was damals als Insolvenzrecht bezeichnet wurde, schützte einen Geschäftsmann bei der Restrukturierung seines Unternehmens kaum vor seinen Gläubigern – in den USA gewährt das »Chapter 11« des Insolvenzrechts einen solchen Schutz für die Dauer von sechs Monaten. Entscheidend aber war vor allem, dass niemand eine zweite Chance erhielt. Der Unternehmer war verpflichtet, sämtliche Schulden zurückzuzahlen, ganz egal, wie lange es auch dauerte, es sei denn, seine Gläubiger entbanden ihn davon. Selbst wenn es dem bankrotten Unternehmer also gelang, ein neues Geschäft aufzuziehen, musste er doch sämtliche Profite dazu verwenden, die alten Schulden zu tilgen, was das Wachstum der neuen Firma beeinträchtigte. All das zusammen machte die Gründung eines Unternehmens zu einer extrem riskanten Angelegenheit.
    Mit der Zeit stellten die Menschen fest, dass das Fehlen einer zweiten Chance die Risikobereitschaft der Unternehmer drastisch senkte. Großbritannien machte 1849 den Anfang, danach verabschiedeten immer mehr Länder ein modernes Insolvenzrecht, das während der Restrukturierungsphase gerichtlichen Schutz vor Gläubigern garantierte und den Gerichten darüber hinaus die Macht verlieh, auch gegen die Gläubigerinteressen eine dauerhafte Schuldenreduzierung anzuordnen. In Verbindung mit Institutionen wie der Haftungsbeschränkung, die etwa zur gleichen Zeit eingeführt wurde (siehe Nr. 2), verringerte dieses neue Insolvenzrecht die Gefahren geschäftlicher Unternehmungen und förderte damit die Risikobereitschaft, wodurch der moderne Kapitalismus erst möglich

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