23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)
gute Wirtschaftspolitik braucht man keine guten Wirtschaftler.
Was sie uns erzählen
Welche theoretischen Rechtfertigungen man für einen staatlichen Eingriff auch finden mag, der Erfolg solcher und anderer politischer Maßnahmen hängt in großem Maße von der Kompetenz derer ab, die sie planen und ausführen. Insbesondere (wenn auch nicht ausschließlich) in den Entwicklungsländern besitzen die Regierungsvertreter häufig kaum Sachkenntnis in Wirtschaftsfragen. Das sollte aber der Fall sein, wenn man eine gute Wirtschaftspolitik betreiben will. Die Verantwortlichen sollten daher ihre Grenzen erkennen und nicht weiter versuchen, eine »schwierige« Politik wie etwa eine selektive Industriepolitik zu verfolgen. Vielmehr sollten sie sich auf die weitaus einfachere Politik eines freien Marktes verlegen, bei der die Rolle des Staates minimiert wird. So betrachtet ist die freie Marktwirtschaft doppelt gut, weil sie nicht nur die beste Politik ist, sondern obendrein die geringsten Anforderungen an die Bürokratie stellt.
Was sie uns verschweigen
Für eine gute Wirtschaftspolitik braucht man keine guten Wirtschaftler. Die erfolgreichsten Wirtschaftsbürokraten der Geschichte waren in der Regel keine Wirtschaftsfachleute. In Japan und in geringerem Umfang auch in Korea wurde die Wirtschaftspolitik von Rechtsanwälten gelenkt. In Taiwan und China sind Techniker für die Wirtschaftspolitik verantwortlich. Dies demonstriert, dass für wirtschaftlichen Erfolg nicht unbedingt auch ausgebildete Wirtschaftsfachkräfte notwendig sind – insbesondere wenn man es mit einem freien Markt zu tun hat. Tatsächlich hat der zunehmende Einfluss der marktliberalen Lehre in den letzten drei Jahrzehnten weltweit zu schlechteren Wirtschaftsleistungen geführt, wie ich in diesem Buch bereits dargelegt habe – zu geringerem Wirtschaftswachstum, höherer volkswirtschaftlicher Instabilität, zunehmender Ungleichheit und schließlich zur Katastrophe der globalen Finanzkrise im Jahr 2008. Soweit wir also eine Wirtschaftstheorie brauchen, muss es eine andere sein als die der freien Marktwirtschaft, die bisher die Welt beherrscht hat.
Wirtschaftswunder ohne Ökonomen
Die ostasiatischen Volkswirtschaften von Japan, Taiwan, Südkorea, Singapur, Hongkong und China werden oft als »Wunder volkswirtschaften« bezeichnet. Das ist zwar eine Übertreibung, für eine Übertreibung allerdings doch sehr nahe an der Realität.
Während der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert wuchs das Pro-Kopf-Einkommen in den westeuropäischen Volkswirtschaften und ihren Ablegern (Nordamerika, Australien und Neuseeland) zwischen 1 und 1,5 Prozent pro Jahr (der exakte Wert hängt davon ab, welches Land man zu welchem Zeitpunkt betrachtet). Im sogenannten Goldenen Zeitalter des Kapitalismus vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur Ölkrise 1973/74 wuchs das Pro-Kopf-Einkommen in Westeuropa und den überseeischen Ablegerstaaten um etwa 3,5 bis 4 Prozent jährlich. Das Pro-Kopf-Einkommen in den oben genannten ostasiatischen Volkswirtschaften hingegen wuchs während der Wunderjahre, also etwa von den Fünfzigern bis Mitte der Neunziger (und im Fall Chinas von den Achtzigern bis heute), um rund 6 bis 7 Prozent pro Jahr. Wenn Wachstumsraten von 1 bis 1,5 Prozent schon auf eine »Revolution« hindeuten und 3,5 bis 4 Prozent ein »Goldenes Zeitalter« ausmachen, dann kann man bei 6 bis 7 Prozent durchaus von einem »Wunder« sprechen. 1
Angesichts solcher wirtschaftlicher Rekorde könnte man annehmen, dass diese Länder über eine Menge guter Wirtschaftsexperten verfügt haben müssen. Wenn Deutschland aufgrund der Qualität seiner Ingenieure im Maschinenbau führend ist und Frankreich die Welt von Mode und Design bestimmt, weil es dort die besten Designer gibt, dann erscheint es nur logisch, dass die ostasiatischen Länder ihr Wirtschaftswunder durch die Leistungen ihrer Wirtschaftler zustande gebracht haben. Besonders in Japan, Taiwan, Südkorea und China – Länder, in denen die Regierung während der Wunderjahre eine sehr aktive Rolle gespielt hat – müssen viele erstklassige Ökonomen im Dienst der Regierung gearbeitet haben. So sollte man zumindest meinen.
Tatsächlich jedoch war alles ganz anders. In den Regierungen des ostasiatischen Wirtschaftswunders glänzten die Wirtschaftsfachleute in erster Linie durch Abwesenheit. Der japanische Beamtenapparat im Wirtschaftsministerium bestand hauptsächlich aus Juristen. Auch in Taiwan waren die höchsten
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