23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)
Großbritannien. Anhand von US-Regierungsdaten errechnet Crotty in seiner oben erwähnten Studie, dass der Anteil von Kapitalanlagen am Bruttoinlandsprodukt in den Vereinigten Staaten zwischen den Fünfziger- und Siebzigerjahren stets etwa 400 bis 500 Prozent betrug, durch die finanzielle Deregulierung Anfang der Achtziger jedoch in die Höhe schoss und zu Beginn des neuen Jahrtausends die 900-Prozent-Marke überschritt.
Dies bedeutete, dass für jeden realen Wert und jede wirtschaftliche Aktivität immer mehr finanzielle Forderungen geschaffen wurden. Die Einführung finanzieller Derivate auf dem Immobilienmarkt, eine der Hauptursachen für die Krise 2008, illustriert diesen Punkt sehr schön.
Wenn früher jemand Geld von einer Bank lieh und ein Haus kaufte, wurde die Bank Eigentümerin des daraus resultierenden Finanzprodukts (der Hypothek), und das war’s. Später jedoch wurden durch Hypotheken gesicherte Wertpapiere, sogenannte MBS (Mortage Backed securities), geschaffen, die oft sogar mehrere tausend Hypotheken bündeln. Diese MBS, manchmal bis zu 150 davon, wurden wiederum zu Collateralized Debt Obligations (CDO) zusammengefasst. Dann wurden die CDO Squared erfunden, indem man andere CDOs als Sicherheit verwendete, danach kamen die CDO Cubed auf, eine Kombination von CDO und CDO Squared. Es folgten die Credit Default Swaps (CDS, Kreditausfall-Swaps), um einen bei Ausfall der CDOs zu schützen. In der verwirrenden Buchstabensuppe der modernen Finanzwirtschaft schwammen bald noch unzählige weitere solcher Derivate.
Mittlerweile bin selbst ich ziemlich verwirrt (wie sich herausgestellt hat, gilt das auch für all diejenigen, die mit diesen Produkten handelten), entscheidend jedoch ist, dass die gleichen Sicherheiten (also die Häuser, auf welche die ursprünglichen Hypotheken aufgenommen wurden) und wirtschaftlichen Aktivitäten (die Ertrag bringenden Aktivitäten der Hypothekeninhaber) wieder und wieder dazu verwendet wurden, neue Anlagemöglichkeiten zu »derivieren«. Ob diese Anlagen am Ende die erhoffte Rendite bringen, hängt jedoch nicht vom eigenen finanziellen Geschick, sondern ausschließlich davon ab, ob die Hunderttausende von Arbeitern und kleinen Unternehmern, welche die ursprünglichen Hypotheken halten, mit ihren Hypothekenzahlungen in Rückstand geraten oder nicht.
Das Resultat war eine zunehmend wackligere Struktur finanzieller Kapitalanlagen, die alle auf dasselbe Immobiliarvermögen gestützt waren. (Nicht zuletzt aufgrund solcher Aktivitäten wuchs freilich auch dieses Fundament selbst, doch wollen wir dies hier nicht weiter vertiefen. Entscheidend ist an dieser Stelle nur, dass die Größe der Superstruktur im Verhältnis zur Basis stetig zunahm.) Wenn man ein bestehendes Gebäude vergrößert, ohne das Fundament zu verstärken, erhöht man damit das Risiko, dass es umkippt. Die Realität an den Finanzmärkten sah jedoch noch viel schlimmer aus. Mit zunehmendem Grad der »Derivation«, also der Entfernung vom Basiswert, wird es immer schwieriger, die neuen Anlagewerte akkurat zu beziffern. Man stockt also nicht nur ein bestehendes Gebäude auf, ohne das Fundament zu vergrößern, sondern verwendet obendrein Materialien von zunehmend unsicherer Qualität für die höheren Stockwerke. Kein Wunder, dass der für seine bodenständige Sicht des Investmentmarkts bekannte amerikanische Investor Warren Buffet Finanzderivate als »Massenvernichtungswaffen« bezeichnete – und zwar schon lange bevor sich in der Krise des Jahres 2008 ihre Zerstörungskraft zeigte.
Gefährliches Überholmanöver
Mit meiner Kritik an der Überentwicklung des Finanzsektors in den letzten zwei oder drei Jahrzehnten will ich nicht sagen, dass Finanzgeschäfte grundsätzlich etwas Schlechtes sind. Hätten wir auf Adam Smith gehört, der gegen die Einführung von Gesellschaften mit beschränkter Haftung war (siehe Nr. 2), oder auf Thomas Jefferson, der Bankgeschäfte für »gefährlicher als stehende Heere« hielt, würden unsere Volkswirtschaften immer noch aus den »höllischen Fabriken« des viktorianischen Zeitalters bestehen, wenn auch nicht unbedingt aus den Stecknadelfabriken eines Adam Smith.
Die Tatsache, dass die Entwicklung des Finanzmarkts entscheidend für die Entwicklung des Kapitalismus war, bedeutet jedoch nicht, dass alle Formen finanzieller Entwicklung gut sind.
Was das Finanzkapital für die wirtschaftliche Entwicklung notwendig, aber möglicherweise auch kontraproduktiv oder sogar destruktiv
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