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23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)

23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)

Titel: 23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ha-Joon Chang
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selbst die grundlegendsten Regulierungen abgeschafft, etwa die Vorschriften über Kapitalreserven der Banken. Daraufhin expandierten die isländischen Banken mit erstaunlicher Geschwindigkeit und sprachen damit auch Kunden aus dem Ausland an. Viele Anleger in Großbritannien, den Niederlanden und Deutschland sicherten sich die günstigen Konditionen via Internetbanking. Auch isländische Investoren nutzten die aggressive Kreditpolitik ihrer Banken und gingen im großen Stil Unternehmen einkaufen – insbesondere in Großbritannien, dem einstigen Gegner aus den drei Kabeljaukriegen von 1958 bis 1975. Das beste Beispiel für diese sogenannten »Wikinger« ist das Investmentunternehmen Baugur, die Firma des jungen Tycoons Jón Jóhanneson. Baugur war erst Anfang des neuen Jahrtausends auf der Bildfläche erschienen, bis 2007 jedoch zu einer bedeutenden Kraft im britischen Einzelhandel geworden. Das Unternehmen besaß die Hauptanteile an Firmen mit insgesamt 65 000 Beschäftigten und einem Umsatz von 10 Milliarden Pfund in 3800 Geschäften, darunter Hamleys, Debenhams, Oasis und Iceland (die britische Tiefkühlkette mit dem verführerischen Namen).
    Eine Zeit lang schien die finanzielle Expansion für Island Wunder zu wirken. Einst eine finanzielle Provinz, die in erster Linie für ihre umfassenden Regulierungen bekannt war (der Aktienmarkt wurde erst 1985 eröffnet), verwandelte sich das Land nun in einen pulsierenden neuen Umschlagplatz im gerade entstehenden globalen Finanzsystem. Vom Ende der Neunziger an wuchs die Wirtschaft mit außergewöhnlicher Geschwindigkeit, und im Jahr 2007 stand Island an fünfter Stelle der reichsten Länder der Welt (nach Norwegen, Luxemburg, der Schweiz und Dänemark). Das Wachstum schien grenzenlos.
    Leider begab sich die isländische Volkswirtschaft nach der Finanzkrise des Jahres 2008 in einen Sinkflug. In jenem Sommer gingen die drei größten Banken des Landes bankrott und mussten von der Regierung übernommen werden. Die Lage verschlimmerte sich so sehr, dass McDonald’s im Oktober 2009 beschloss, sich aus Island zurückzuziehen, und es damit zum Grenzland der westlichen Zivilisation abstempelte. Schätzungen des Internationalen Währungsfonds Anfang 2010 zufolge schrumpfte die Volkswirtschaft 2009 um 8,5 Prozent. Dies war der stärkste zu verzeichnende Rückgang unter den reichen Ländern.
    Wie riskant der rasante Aufschwung der isländischen Finanzwirtschaft seit den späten Neunzigern tatsächlich war, tritt immer deutlicher zutage. 2007 hatten die Kapitalanlagen einen Wert von 1000 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erreicht. Dieser lag damit doppelt so hoch wie in Großbritannien, einem Land mit einem der höchstentwickelten Banksektoren der Welt. Im selben Jahr erreichte die Nettoauslandsverschuldung (Auslandsschulden minus Auslandsforderungen) beinahe 250 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, ein Anstieg um rund 200 Prozent seit 1997. Für viele Länder hat schon eine weit geringere Verschuldung zur Katastrophe geführt – in Korea betrug die Nettoauslandsverschuldung am Vorabend der asiatischen Finanzkrise des Jahres 1997 gerade 25 Prozent, in Indonesien 35 Prozent. Obendrein wurde nun die fragwürdige Natur der Finanzgeschäfte hinter dem isländischen Wirtschaftswunder aufgedeckt – sehr häufig waren die Hauptkreditnehmer der Banken die Schlüsselanteilseigner derselben Banken.

Massenvernichtungswaffen?

    Die Folge von alledem war weltweit ein außergewöhnliches Wachstum auf dem Finanzsektor, insbesondere in den reichen Ländern. Es handelte sich dabei nicht um ein Wachstum in absoluten Zahlen. Entscheidend ist, dass der Finanzsektor viel schneller, nein: viel, viel schneller als die ihm zugrundeliegende Volkswirtschaft wuchs.
    Gabriel Palma, ein Kollege von mir aus Cambridge, ist eine führende Autorität zum Thema Finanzkrise. Er hat anhand von Daten des IWF errechnet, dass das Verhältnis der Finanzaktiva zur Weltgesamtleistung zwischen 1980 und 2007 von 1,2 auf 4,4 gestiegen ist. 5 Die relative Größe des Finanzsektors war in vielen reichen Ländern noch wesentlich größer. Palmas Berechnungen zufolge erreichte der Anteil der Kapitalanlagen am Bruttoinlandsprodukt in Großbritannien 2007 einen Wert von 700 Prozent. Frankreich, das sich gern als Gegenpol zum angloamerikanischen Finanzkapitalismus darstellt, lag hier nicht weit hinter Großbritannien – der Anteil von Kapitalanlagen am französischen Bruttoinlandsprodukt ist nur eine Spur niedriger als in

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