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23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)

23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)

Titel: 23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ha-Joon Chang
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Watergate-Affäre bekannt gewordene Journalist Bob Woodward über ihn geschrieben hat. Greenspans Nachfolger Ben Bernanke vertrat eine auf Preisstabilität ausgerichtete Geldpolitik, die auf eine gezügelte Inflation und das Verschwinden aggressiver wirtschaftlicher Zyklen setzte (siehe Nr. 6).
    Daher war es den meisten Menschen – darunter auch der Queen – ein Rätsel, wie in einer Welt, in der kluge Ökonomen anscheinend sämtliche schwerwiegenden Probleme fest im Griff hatten, alles so spektakulär schieflaufen konnte. Wie konnten all diese schlauen Typen mit Abschlüssen von den besten Universitäten, denen die hypermathematischen Gleichungen nur so aus den Ohren quollen, derart danebengelegen haben?
    Als die British Academy von der Sorge der Monarchin erfuhr, berief sie am 17. Juni 2009 ein Treffen der besten Wirtschaftsexperten aus Lehre, Finanzsektor und Regierung ein. Das Ergebnis dieser Tagung wurde der Königin in einem auf den 22. Juli 2009 datierten Brief übermittelt. Verfasser waren Professor Tim Besley, ein prominenter Wirtschaftswissenschaftler an der London School of Economics, und Professor Peter Hennessy, ein bekannter Historiker auf dem Gebiet der britischen Regierung an der Londoner Queen Mary University. 2
    In dem Brief teilten Besley und Hennessy mit, dass die einzelnen Wirtschaftler durchaus kompetent seien und »ihre Sache an und für sich recht gut machen«, doch hätten sie im Vorfeld der Krise »den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr gesehen«. Den beiden Professoren zufolge handelte es sich hierbei um »ein Versagen der kollektiven Vorstellungskraft vieler kluger Menschen sowohl in diesem Lande als auch weltweit, die Risiken des Systems als Ganzes richtig abschätzen zu können«.
    Ein Versagen der kollektiven Vorstellungskraft, der Fantasie ? Hatten die meisten Ökonomen, darunter auch ein Großteil der Tagungsteilnehmer an der British Academy, uns nicht immer versichert, dass freie Märkte am besten funktionierten, weil wir rational und individualistisch seien? Hatte es nicht stets geheißen, dass wir selbst am besten wüssten, was wir (und vielleicht noch die nächsten Angehörigen) wollten – und wie man es am besten bekommt (siehe Nr. 5 und 16)? Ich kann mich nicht daran erinnern, dass in den Wirtschaftswissenschaften jemals viel über Phantasie und Vorstellungskraft gesprochen wurde, insbesondere nicht über eine kollektive Ausprägung, und ich bin immerhin seit zwei Jahrzehnten in diesem Bereich tätig. Ich bin nicht einmal sicher, ob ein Begriff wie die Phantasie, ob nun kollektiv oder nicht, im herrschenden rationalistischen Diskurs in den Wirtschaftswissenschaften überhaupt einen Platz hat. Die Größten und Besten der britischen Wirtschaftswelt mussten im Grunde also eingestehen, dass sie nicht wussten, was schiefgelaufen war.
    Das ist jedoch etwas zu milde ausgedrückt. Wirtschaftsexperten sind keine unschuldigen Techniker, die in den engen Grenzen ihres Fachbereichs gute Arbeit leisten, bis sie von einer nicht vorhersehbaren Jahrhundertkatastrophe kollektiv auf dem falschen Fuß erwischt werden.
    Während der letzten drei Jahrzehnte haben Wirtschaftsexperten eine tragende Rolle dabei gespielt, die Bedingungen für die Krise des Jahres 2008 zu schaffen (und für Dutzende kleinerer Finanzkrisen vorher, etwa die Schuldenkrise der Dritten Welt 1982, die Krise des mexikanischen Pesos 1995, die Asienkrise 1997 und die russische Krise 1998), indem sie die theoretische Rechtfertigung für finanzielle Deregulierung und das ungehinderte Streben nach kurzfristigen Gewinnen lieferten. Anders ausgedrückt, verfügen sie über ausgeklügelte Theorien, die jene Politik rechtfertigen, die zu einem verlangsamten Wachstum, größerer Ungleichheit, höherer Arbeitsplatzunsicherheit und den immer häufigeren Finanzkrisen geführt hat, unter denen die Welt in den letzten drei Jahrzehnten zu leiden hatte (siehe Nr. 6, 12, 13 und 21). Daneben haben sie eine Politik vorangetrieben, welche die Aussichten auf eine langfristige Besserung der Lage in den Entwicklungsländern verschlechtert hat (siehe Nr. 7 und 11). In den reichen Ländern haben diese sogenannten Experten das Leben der Menschen immer unsicherer gemacht (siehe Nr. 6) und sie dazu verleitet, die Macht neuer Technologien zu überschätzen (siehe Nr. 4), den Verlust staatlicher Kontrolle über die Volkswirtschaft zu ignorieren (siehe Nr. 8) und eine selbstgefällige Haltung gegenüber der Deindustrialisierung einzunehmen (siehe Nr. 9).

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