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23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)

23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)

Titel: 23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ha-Joon Chang
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macht, ist die Tatsache, dass es wesentlich liquider ist als Industriekapital. Stellen Sie sich vor, Sie wären ein Fabrikbesitzer, der plötzlich Geld zum Kauf von Rohstoffen oder Maschinen brauchte, um eine unerwartete Nachfrage befriedigen zu können. Stellen Sie sich weiter vor, Sie hätten bereits ihr gesamtes Kapital in den Bau einer Fabrik sowie in den Kauf von Maschinen und der notwendigen Rohstoffe investiert. Dann wären Sie doch bestimmt froh, wenn Ihnen Banken das nötige Geld liehen (gegen Ihre Fabrik als Sicherheit), weil diese wüssten, dass Sie mit diesem zusätzlichen Materialeinsatz höhere Erträge erzielen könnten. Oder stellen Sie sich vor, Sie wollten die Hälfte Ihrer Fabrik verkaufen (um, sagen wir, einen neuen Geschäftszweig zu eröffnen), niemand jedoch ein halbes Gebäude und ein halbes Fließband kaufen will. In diesem Fall würde es Sie beruhigen zu erfahren, dass man Aktien ausgeben und die Hälfte davon verkaufen könnte. Mit anderen Worten: Der Finanzsektor hilft den Unternehmen, zu expandieren und sich zu verändern, weil er in der Lage ist, illiquide Werte wie Gebäude und Maschinen in liquide Werte wie Kredite und Aktien umzuwandeln.
    Doch gerade diese Liquidität finanzieller Kapitalanlagen macht sie für die übrige Volkswirtschaft zu einer potenziellen Gefahr. Der Bau einer Fabrik dauert mindestens einige Monate, wenn nicht sogar Jahre. Das technologische und organisatorische Wissen anzuhäufen, das man zum Aufbau eines Weltunternehmens benötigt, braucht gar Jahrzehnte. Finanzwerte hingegen können binnen Minuten, wenn nicht Sekunden, bewegt und neu gestreut werden. Diese enorme Ungleichheit hat zu gewaltigen Problemen geführt, weil das Finanzkapital »ungeduldig« und auf schnelle Gewinne aus ist (siehe Nr. 2). Kurzfristig entsteht daraus eine volkswirtschaftliche Instabilität, weil liquides Kapital unerwartet und auf »irrationale« Weise um die Welt schwappt, wie wir kürzlich gesehen haben. Wichtiger noch ist, dass dies langfristig auch zu einer Schwächung des Wirtschaftswachstums führt, weil langfristige Investitionen gekürzt werden, um das ungeduldige Kapital zu befriedigen. Das Ergebnis ist, dass sich – trotz eines enormen Fortschritts bei der sogenannten »Finanzvertiefung« (also der Zunahme von Finanzanlagen im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt) – das Wachstum in den letzten Jahren verlangsamt hat (siehe Nr. 12 und 13).
    Eben weil der Finanzmarkt in der Lage ist, äußerst effizient auf veränderte Gewinnchancen zu reagieren, kann er für die übrige Volkswirtschaft schädlich werden. Genau das ist der Grund, warum James Tobin, der Wirtschaftsnobelpreisträger des Jahres 1981, von der Notwendigkeit sprach, »ein wenig Sand ins Getriebe unserer exzessiv effizienten internationalen Geldmärkte zu werfen«. Zu diesem Zweck schlug Tobin vor, eine Finanztransaktionssteuer einzuführen, die bewusst darauf abzielen sollte, die Finanzströme zu verlangsamen. Bis vor Kurzem war die sogenannte Tobin Tax [Tobin-Steuer] noch ein Tabu in politischen Kreisen, bis sich der damalige britische Premierminister Gordon Brown offen dafür aussprach. Die Tobin Tax ist jedoch nicht die einzige Möglichkeit, die unterschiedlichen Geschwindigkeiten von Finanz- und Realwirtschaft einander anzugleichen. Weitere Maßnahmen wären zum Beispiel, feindliche Übernahmen zu erschweren (und dadurch die Gewinne aus spekulativen Aktiengeschäften zu reduzieren), Fixgeschäfte zu verbieten (die Praxis, Anteile zu verkaufen, die man zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht besitzt), Sicherheitsleistungen zu erhöhen (der im Voraus zu entrichtende Geldanteil beim Anteilskauf) oder die Beschränkung grenzüberschreitender Kapitalbewegungen, insbesondere für Entwicklungsländer.
    Damit will ich nicht sagen, dass man die unterschiedlichen Geschwindigkeiten von Finanz- und Realwirtschaft hundertprozentig angleichen sollte. Ein mit der Realwirtschaft perfekt synchronisiertes Finanzsystem wäre nutzlos. Bei der ganzen Finanzwirtschaft dreht sich ja gerade alles darum, dass sie schneller und beweglicher ist als die Realwirtschaft. Angesichts der aktuellen Lage müssen wir unser Finanzsystem jedoch generalüberholen, damit es die Unternehmen nicht nur mit schnellem Geld versorgt, sondern ihnen auch in Zukunft gestattet, langfristige Investitionen in physisches Kapital, Humanressourcen und Organisation zu tätigen – die Grundvoraussetzung für jede wirtschaftliche Entwicklung.

Dreiundzwanzig: Für eine

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