23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)
Revolution (etwa 1820 bis 1913). Diese bewegten sich zwischen 1 und 1,5 Prozent.
Die Tatsache, dass die Wirtschaft in Afrika vor 1980 eine durchaus respektable Wachstumsrate aufwies, legt die Vermutung nahe, dass »strukturelle« Faktoren nicht die Hauptursache für die (im Grunde erst kürzlich beobachtete) Wachstumsstagnation sein können. Wenn dies der Fall wäre, hätte es in Afrika nämlich niemals ein Wirtschaftswachstum geben dürfen. Die afrikanischen Länder sind nicht plötzlich in Richtung Äquator gerückt oder durch seismische Aktivitäten auf einmal ihres Meerzugangs beraubt worden. Wenn strukturelle Faktoren so entscheidend wären, dann hätte sich das Wirtschaftswachstum in Afrika mit der Zeit trotzdem beschleunigen müssen, weil zumindest einige dieser Faktoren an Einfluss verloren hätten oder ganz weggefallen wären. Noch aus Kolonialzeiten stammende, schlecht funktionierende Institutionen etwa hätten abgeschafft oder verbessert werden können. Selbst ethnische Spannungen hätten sich durch allgemeine Bildung, Militärdienst und Massenmedien reduzieren lassen, und zwar in der gleichen Weise, wie es Frankreich gelang, »aus armen Kleinbauern Franzosen« zu machen, wie es der amerikanische Historiker Eugen Weber in seinem Klassiker Peasants into Frenchmen aus dem Jahr 1976 formuliert hat. 3 Die Realität hingegen sah anders aus – nach dem Ende der Achtzigerjahre brach das afrikanische Wachstum plötzlich in sich zusammen.
Wenn die strukturellen Faktoren also immer schon existiert haben und sich ihr Einfluss mit der Zeit zumindest verringert hat, dann bietet dieser Ansatz keine Erklärung dafür, warum das Wirtschaftswachstum in Afrika nach den hoffnungsvollen Sechziger- und Siebzigerjahren abrupt zum Stillstand kam. Der plötzliche Zusammenbruch muss sich durch etwas erklären lassen, das um 1980 passiert ist. Als Hauptverdächtiger kommt der dramatische politische Wandel der damaligen Zeit in Betracht.
Seit den späten Siebzigern (beginnend 1979 mit dem Senegal) waren subsaharische Staaten gezwungen, eine liberale Handels- und Marktpolitik einzuführen. Dies gehörte zu den Bedingungen der sogenannten Strukturanpassungsprogramme der Weltbank und des IWF (und damit letztlich der reichen Länder, die diese Institutionen kontrollieren). Entgegen der landläufigen Meinung ist eine solche Politik aber nicht gut für die wirtschaftliche Entwicklung (siehe Nr. 7). Da sie unreife Produzenten plötzlich dem internationalen Wettbewerb aussetzte, führte die neue Politik schließlich zum völligen Zusammenbruch der wenigen Industriezweige, die sich diese Länder während der Sechziger und Siebziger hatten aufbauen können. Viele afrikanische Staaten waren nun wieder ganz vom Rohstoffexport abhängig – Kakao, Kaffee oder Kupfer – und leiden seitdem unter den wilden Preisschwankungen und rückständigen Produktionsmethoden, welche die meisten dieser Rohstoffe auszeichnen. Zudem waren in den Strukturanpassungsprogrammen starke Exportzuwächse gefordert, sodass die afrikanischen Länder, deren technologische Kapazitäten nur einen begrenzten Produktionsspielraum boten, schließlich versuchten, ähnliche Waren zu exportieren – ob es sich dabei nun um traditionelle Produkte wie Kaffee und Kakao oder neue Produkte wie Schnittblumen handelte. Das Resultat war häufig ein totaler Preisverfall bei diesen Gütern, deren Verfügbarkeit nun dramatisch zunahm. Bisweilen bedeutete dies, dass manche Länder quantitativ mehr exportierten, aber noch weniger daran verdienten als zuvor. Der Druck auf die Regierungen, ihren Haushalt in Ordnung zu bringen, führte zu Ausgabenkürzungen, deren Auswirkungen, etwa auf die Infrastruktur, sich nur langsam zeigten. Nach und nach jedoch wurde die Benachteiligung afrikanischer Hersteller durch die bröckelnde Infrastruktur sichtbar, was wiederum die »geografischen Nachteile« noch stärker in den Vordergrund rückte.
Das Ergebnis der Strukturanpassungsprogramme – und ihrer zahlreichen späteren Inkarnationen, das heutige Strategiepapier zur Armutsminderung eingeschlossen – war eine stagnierende Wirtschaft, die, gemessen am Pro-Kopf-Einkommen, seit drei Jahrzehnten nicht mehr gewachsen ist. In den Achtziger- und Neunzigerjahren fiel das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen in den subsaharischen Staaten jährlich um 0,7 Prozent. Anfang des neuen Jahrtausends setzte endlich ein zaghaftes Wachstum ein, doch bewirkte der Rückgang der vorangegangenen zwei Jahrzehnte, dass sich
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