230 - Gilam'esh'gad
Herzschlag anders als sonst?
Matt schaute hinaus. Die Umgebung war klar bis auf das allgegenwärtige Plankton. Hunger rumorte in seinen Eingeweiden. Er aß etwas von dem Proviant, den er mitgenommen hatte, und zapfte der Qualle entsalztes Wasser ab, das zwar furchtbar schmeckte, aber seinen Durst löschte.
Wo setze ich meine Suche fort, sinnierte er. Es hat wenig Sinn, kreuz und quer durch die Stadt zu irren. Ich muss gezielt suchen.
Quart’ol hatte das Magma-Kraftwerk vorgeschlagen, das unter der Stadt lag und von dem Gilam’esh’gad seine Energie bezogen hatte. Zwar hatten sein hydritischer Freund und die beiden Marsianer dort bereits nach dem Hauptschalter gesucht – zumindest in den oberirdischen Anlagen, denn im Kraftwerk selbst sollten Temperaturen von bis zu fünftausend Grad herrschen –, aber Matt wollte es als Ausgangspunkt nehmen, um von dort aus immer größere Kreise zu ziehen. Wo bringt man den großen roten Knopf sonst an, wenn nicht in der Nähe der Stromquelle?, sagte er sich.
Matts Finger glitten über die bionetischen Kontrollen. Das halborganische Fahrzeug setzte sich fast lautlos in Bewegung.
Ein Schwarm meterlanger schweinsnasiger Tiefseefische schreckte auf und spritzte auseinander. Die Qualle rauschte so elegant dahin, dass sie in der stygischen Finsternis wie eine weiße Fee wirkte und Matt sie spontan auf diesen Namen taufte.
Rechts und links ragten jetzt geborstene Kuppeln auf. Ihre Risse und Löcher luden Fische aller Farben und Formen zu einem ständigen Kommen und gehen ein. Haiähnliche Kreaturen mit drei Augen und Walrosszähnen umkreisten die Weiße Fee und stierten mit starren Augen den Menschen an, der sie nicht weniger fasziniert musterte. Trotz des auf ihm lastenden psychischen Drucks schlug die faszinierende unterseeische Welt Matthew immer wieder in ihren Bann.
Er fühlte sich dann an Jules Verne und seinen Roman Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer erinnert. Als junger Bursche hatte er Kapitän Nemos Abenteuer mit großem Vergnügen verschlungen. Sie hatten ihm fast besser gefallen als die abgegriffenen Science-Fiction-Taschenbücher seines Vaters – aber eben nur fast. Der Gedanke, sein Leben in einem U-Boot zu verbringen und nur dann an die Oberfläche zu kommen, wenn man Sauerstoff tanken oder Proviant ergänzen musste, hatte etwas zu Schauerliches.
Das Gelände, das Quart’ol beschrieben hatte, lag im Norden der Stadt und erinnerte, wenn man es aus der Höhe betrachtete, an den Petersplatz im Vatikan. Ein gigantisches Bauwerk umzog einen kreisförmigen »Platz«, der einst mit Platten ausgelegt worden war. Erdverschiebungen und die vom Kraftwerk ausgehende Hitze hatten sie bersten lassen, sodass die meisten nun fast aufrecht standen. Dort, wo der Boden frei war, hatte sich die Natur ausgebreitet: gravitätisch wiegende Unterwasserwälder beherrschten die Fläche. Exotische Lebewesen wichen lautlos aus, als die Weiße Fee sich dem Komplex von schräg oben näherte.
Angesichts des riesigen Areals kam sich Matt seit langer Zeit erstmals wieder wie ein Pilot im Landeanflug vor. Würde sich gleich der Lotse aus dem Tower melden und seine Identifikation verlangen?
Seine Finger huschten über bionetische Kontakte. Die Weiße Fee reagierte wie ein Präzisionsinstrument: Sie rauschte über dem exotischen Wald auf das gewaltige Bauwerk zu.
Grüner Schilf wehte überall. Scharen silberner Fische, die in dem Wald lebten, schreckten auf, als der dunkle Schatten der Qualle sie traf. Ein dreiäugiges walzenförmiges Etwas mit Entenfüßen pflügte unter der Weißen Fee durch sein Element. Ein Geschöpf, das wie sechshundert Pfund Kartoffelsalat aussah, riss sein Maul auf und streckte Matt die Zunge heraus.
Plötzlich irritierte ihn eine Bewegung, die er aus dem Augenwinkel wahrnahm. War da nicht etwas an ihm vorbei gehuscht? Er reckte den Hals. Da! – Nein, da! Er sah es nur für den Bruchteil einer Sekunde, als Schemen im Dämmerlicht. Linker Hand stiegen Luftblasen auf.
Matts Finger streichelten die Kontakte. Das lange Training hatte sich gelohnt: Er kam jetzt fast traumwandlerisch mit dem Prototyp zurecht. Die Weiße Fee vollführte eine elegante Wende. Matt kniff die Augen zusammen. Unter ihm, zwischen den wehenden Farnen… huschte da nicht etwas – oder jemand? – durch die Unterwasserwildnis und bemühte sich, nicht gesehen zu werden?
Matt glaubte humanoide Gliedmaßen gesehen zu haben, doch das flüchtige Ding war so schnell, dass er sich nicht sicher war
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