2310 - Strukturpiloten
Sheerdurn Leid. Offenbar stand Auhara dem Bengel in puncto Scharfsinn, Dickköpfigkeit und Durchsetzungsvermögen kaum nach.
„Du hast die Wahl", insistierte das beeindruckend selbstsichere Persönchen.
„Entweder du lässt mich zeitweilig von der Leine – dann weißt du, wo ich bin, und hast mein Versprechen, dass ich keine Dummheiten begehen werde.
Oder eben nicht. Such’s dir aus."
Sheerdurn fühlte sich bemüßigt, etwas über das „Flüggewerden" zu faseln, den Lauf der Natur, das in Anbetracht der Umstände vernünftige Ansinnen und so weiter.
Die Gouvernante brachte ihn mit einem Blick zum Verstummen, dessen Intensität einem Desintegrator-Strahl gleichkam. „Du kennst den jungen Mann?"
„Äh ... ja. Auch seine hierorts hoch geachtete Familie."
„Würdest du für ihn bürgen?"
„Selbstverständlich." Er räusperte sich, denn seine Stimme hatte belegt geklungen.
„Na schön. Zwei Stunden, keine Sekunde mehr. Beginnend", sie hob einen knochigen Zeigefinger, „übermorgen, nachdem Auhara ihre Charon-Prüfung abgelegt hat. Unter einer Bedingung.
Ich werde Ablenkung und Zerstreuung benötigen, um nicht vor Sorgen zu vergehen. Deshalb bestehe ich darauf, dass zu den Zeiten ihrer, hhm, Rendezvous mit Kempo du, Herr Pilot, mir Gesellschaft leistest."
Jetzt litt Sheerdurn unter plötzlichem Sauerstoffmangel. Nein. Bei allen Schutzherren – was zu viel war, war zu viel.
„Nicht, ohne zuvor eine Badeanstalt aufgesucht zu haben", fügte die strenge Gouvernante noch hinzu.
Sheerdurn hyperventilierte. Stumm um Erbarmen flehend, schüttelte er den Kopf, blickte von Kempo zu Auhara und wieder zurück. Das konnten sie ihm nicht antun. Das hatte er nicht verdient.
Doch in den herzförmigen Augen des jung verliebten Pärchens las er ein einziges Wort: BITTE.
„Es wird mir ein Vergnügen sein", sagte er flach, innerlich erschaudernd.
*
Die Wochen verflogen. Für Kempo und Auhara sowieso: Sie genossen die viel zu kurzen Stunden, die viel zu wenigen Tage, die ihnen geschenkt waren.
Denn nach dem Nationenrummel würde alles vorüber sein. Dann blieben ihnen bloß ein, zwei jährliche Stippvisiten, bei aller Liebe wohl ungenügend, um eine Beziehung aufrechtzuerhalten.
Ohne viele Worte darüber zu verlieren, gingen sie davon aus, dass Auhara nach Bocyn zurückkehren würde, während Kempo die Piloten-Karriere in Angriff nahm. Auhara teilte seine Zuversicht, fühlte auch diesbezüglich mit ihm. Wenn jemand im Übermaß die Voraussetzungen dafür mitbrachte, im Strukturgestöber zu bestehen, dann er.
Die Tragik des Begabten: ein beliebtes Motiv charonischer Theaterstücke und Kitsch-Serien. Kempo und sein hübschestes Mädchen des Universums erlebten es am eigenen Leib. Jedoch ließen sie sich, gesegnet mit dem Überschwang und Optimismus der Jugend, die Stunden ihrer Zweisamkeit davon nicht trüben. Es war, wie es war: wunderschön und ohnehin nicht zu ändern.
Um so rauschhafter vergingen die Tage.
Völlig unerwarteterweise fand allmählich auch Sheerdurn Gefallen an den Konversationsstunden, zu denen er sich schweren Herzens verpflichtet hatte. Die Gouvernante verfügte nicht nur über ein – wohlwollend ausgedrückt – einprägsames Äußeres und eine markante Stimme, sondern auch über scharfen, klaren und erfreulich undogmatischen Intellekt.
Als das Ende der Festwochen herannahte, ertappte sich Sheerdurn beim Gedanken, dass er die durchaus heftig geführten Debatten mit der streitlustigen Matrone vermissen würde.
*
War Auhara unter den ersten Prüflingen gewesen, so gehörte Kempo zu den letzten.
Sie hatte ihm den Ablauf geschildert.
Zuerst kam der Intelligenztest. Vorstellungsvermögen und räumliches Sehen wurden ebenso abgefragt wie mathematische Fähigkeiten und naturwissenschaftliche Grundkenntnisse. Obwohl keine Ergebnisse bekannt gegeben wurden – dies geschah erst am „Tag der Tränen" –, glaubte Auhara, dabei ganz gut abgeschnitten zu haben.
Auch Kempo tat sich leicht. Seine Antworten kamen so rasch und präzise, dass die Mitglieder des teils aus Strukturpiloten, teils aus Regierungsvertretern bestehenden Kollegiums mehr als einmal anerkennend nickten. Für die schriftlichen Aufgaben benötigte er nicht einmal ein Drittel der zur Verfügung stehenden Zeit.
Im Anschluss daran ging es in eine der Kabinen, die seit vielen Generationen scherzhaft „Folterkammern" genannt wurden. Ein irreführender, falscher Ausdruck, denn Kempo spürte von der Messung
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