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2312

2312

Titel: 2312 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Stanley Robinson
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das klingt nach einer menschlichen Fehlleistung.«
    »Ja.«
    Später an jenem Abend blieb Swan einmal mehr lange in der Kantine. Ihr gegenüber am Tisch saß Genette und aß Weintrauben. Swan sagte: »Seit du mir von der Steinchen-Attacke erzählt hast, glaube ich, dass es wahrscheinlich eigentlich direkt Terminator hätte treffen sollen und jemand einen Fehler gemacht hat. Wenn dieser Jemand nicht gewusst hätte, dass die Relativitätsgleichungen für die Präzession des Merkur bereits in die Standardalgorithmen einbezogen sind und sie zusätzlich berechnet hätte, dann würde er genau so weit in westlicher Richtung am Ziel vorbeischießen, wie es tatsächlich der Fall war.«
    »Interessant«, sagte Genette und musterte sie aufmerksam. »Ein Programmierfehler, mit anderen Worten. Ich war davon ausgegangen, dass man Terminator absichtlich verfehlt hat – dass es sich gewissermaßen um einen Warnschuss handelte. Darüber muss ich genauer nachdenken.« Nach einer kurzen Pause: »Danach hast du wohl deine Pauline befragt?«
    »Das habe ich. Sie hatte bereits geschlussfolgert, worum es bei unserem Gespräch im Groben ging, während sie abgeschaltet war. Mit Passepartout verhält es sich sicher genauso.«
    Ohne etwas zu erwidern, runzelte Genette die Stirn.
    Swan fuhr fort: »Ich kann nicht glauben, dass jemand versuchen würde, so viele Menschen umzubringen. Oder es sogar wirklich tun würde, wie an Bord der Yggdrasil . Wir haben doch so viel Raum zur Verfügung … so viel von allem. Ich meine, wir leben in einer Gesellschaft, in der es eigentlich keine Not mehr gibt. Ich kapiere das nicht. Du sprichst von einem Motiv, aber in einem physiologischen Sinne gibt es kein Motiv für so etwas. Wahrscheinlich bedeutet es, dass das Böse wirklich existiert. Ich dachte, das wäre nur ein alter religiöser Begriff, aber da lag ich wohl falsch. Mir wird ganz schlecht davon.«
    Genettes hübsches kleines Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. »Manchmal glaube ich, dass es das Böse nur in Gesellschaften gibt, die keine Not mehr kennen. Vorher konnte man immer alles auf Bedürfnisse oder Ängste zurückführen. Man konnte, wie du es offenbar auch getan hast, daran glauben, dass zusammen mit Angst und Mangel auch der Impuls verschwinden würde, etwas Schlimmes zu tun. Die Menschheit würde sich sozusagen als ein Volk von Bonobos erweisen, als altruistische Kooperative, geprägt von allseitiger Liebe.«
    »Genau!«, rief Swan. »Warum nicht!«
    Genette zuckte abgeklärt und gleichmütig mit den Schultern. »Vielleicht waren wir nie frei von Angst und Mangel. Es ist nicht nur Nahrung und ein Dach über dem Kopf, was uns ausmacht. Man sollte meinen, dass es sich dabei um die bestimmenden Faktoren handelt, aber viele wohlgenährte Bürger eines Gemeinwesens sind voller Wut und Angst. Sie verspüren gemalten Hunger, wie die Japaner sagen. Gemalte Angst, gemaltes Leid. Der Zorn des unterwürfigen Willens. Der Wille ist eine Frage der freien Entscheidung, aber Unterwerfung bedeutet die Abwesenheit von Freiheit. Deshalb fühlt der unterwürfige Wille sich besudelt, er verspürt Schuld und bringt sie zum Ausdruck, indem er etwas Äußerliches angreift. Und so geschieht dann etwas Böses.« Ein weiteres Schulterzucken. »Wie auch immer man es sich erklärt, die Menschen tun Böses. Glaube mir.«
    »Das muss ich wohl.«
    »Bitte.« Genette lächelte jetzt. »Ich möchte dich nicht mit all den Dingen belasten, die ich schon gesehen habe. Manches davon hat bei mir ganz ähnliche Fragen aufgeworfen wie bei dir. Das Konzept des unterwürfigen Willens hat mir dabei weitergeholfen. Und in letzter Zeit frage ich mich, ob nicht jeder Qube definitionsgemäß eine Art unterwürfiger Wille ist.«
    »Aber dieser Programmierfehler, der erklären könnte, warum der Einschlag sich westlich der Stadt ereignet hat – der war menschlich.«
    »Ja. Nun ja, den unterwürfigen Willen gibt es zuallererst bei den Menschen. Ein Teil von ihnen weiß, dass die Taten, die sie begehen, falsch sind, aber sie begehen sie trotzdem, weil sie einem anderen Teil ihres Selbst Erleichterung verschaffen.«
    »Aber die meisten Menschen versuchen doch, Gutes zu tun«, wandte Swan ein. »Das ist doch ersichtlich.«
    »Bei meiner Arbeit nicht.«
    Swan betrachtete die kleine, so ordentliche und flinke Gestalt. »Das verändert wahrscheinlich die Sicht, die man auf die Dinge hat …«, sagte sie nach einer Weile.
    »Allerdings. Und … man bekommt es immer wieder mit denselben

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