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2312

2312

Titel: 2312 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Stanley Robinson
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sie Nadelhölzer. Hier und da legten sie Sprengsätze in den Boden, um die Decke aus neu eingeführtem Erdreich emporzuschleudern und die ursprünglichen Taiga-Bakterien wieder an die Oberfläche zu bringen. All das musste geschehen, solange die Karibus noch weit genug weg waren, um nicht verschreckt zu werden. Und weil es eine Menge zu tun gab, legten sie so schnell wie möglich los.
    Nachts schlief Swan in ihrem Ganzkörperanzug, in dessen Taschen sich nebst ausreichend Nahrung für zwei Tage auch eine Aerogel-Matratze und eine wärmende Decke befanden. Das eine oder andere Mal meldete sie sich bei ihrem Team, aber eigentlich verfolgte sie die Wölfe lieber allein, mochte das auch noch so unwölfisch sein. Inzwischen war das Rudel nur noch selten zu sehen, aber sie konnte seiner Spur folgen: Der Boden war weich, sodass häufig Fußabdrücke der neun Tiere zu sehen waren. Ihre eigene Gruppe der Neun.
    Am dritten Morgen, eine ganze Weile vor der Dämmerung, nach einer Nacht mit wenig Schlaf, beschloss sie, aufzustehen und wenn möglich zu dem Rudel aufzuschließen. In Dunkelheit und Kälte wanderte sie mit eingeschalteter Stirnlampe. Die Spuren sah sie am besten, wenn sie die Lampe abnahm und vor sich auf den Boden richtete.
    Etwa eine Stunde vor der Morgendämmerung hörte sie von vorne ihr Geheul. Der Frühchor. Die Wölfe heulten beim Anblick der aufgehenden Venus, weil sie wussten, dass die Sonne bald folgen würde. Swan sah, welchen Himmelskörper sie anheulten, aber an seiner Position im Verhältnis zum Sternbild des Orion erkannte sie, dass es sich nicht um die Venus handelte, sondern um Sirius. Einmal mehr waren die Wölfe auf ihn hereingefallen. Die Pawnee hatten Sirius aufgrund dieses Irrtums sogar den Namen Der-die-Wölfe-narrt gegeben. Als etwa eine halbe Stunde später die Venus selbst aufging, meldete sich nur ein einziger wölfischer Astronom voll Unbehagen zu Wort und verkündete heulend, dass etwas nicht stimmte. Swan lachte, als sie es hörte. Jetzt würden andere Wölfe weiter westlich das Dämmerungsgeheul aufnehmen. Lange Zeiten hatte es eine quer über ganz Nordamerika verlaufende Terminatorzone heulender Wölfe gegeben, die mit der aufgehenden Sonne nach Westen wanderte. Jetzt würde es vielleicht bald wieder so sein.
    Als es hell wurde, arbeitete sie sich langsam näher an die Wölfe heran, indem sie dem Geheul des verstörten Astronomen folgte. Anscheinend hatten die Wölfe die Nacht auf einem Pingo verbracht, und jetzt jaulten und knurrten sie abweisend, als Swan sich näherte. Sie wollten nicht weg, und sie wollten auch nicht, dass Swan näher herankam. Irgendetwas ging dort oben vor, dachte sie; vielleicht bekam eine der Wölfinnen Junge oder etwas Ähnliches. Sie wartete in einiger Entfernung, und erst, als die Wölfe Richtung Osten davongeschlichen waren, stieg sie an der flachen Hangseite auf den Pingo, um ihn sich näher anzusehen.
    Ein Geräusch ließ sie erstarren. Im ersten Moment sah sie nichts, aber es gab einen kleinen Teich ganz oben auf dem Pingo, einen Kessel wie den Krater eines Miniaturvulkans. Von dort kam das Geräusch – ein Winseln. Swan ging an die Kante und blickte hinab. Ein junger Wolf mit nassem, schlammverschmiertem Fell drückte sich auf einem schmalen Lehmvorsprung herum, der um das Wasser in vier oder fünf Meter Tiefe verlief. Die Wände des Lochs waren senkrecht und sogar leicht unterhöhlt von dem Wasser am Grund, in dessen schlammiges Blau sich ein türkisfarbener Schimmer mischte. Vielleicht befand sich darunter Eis, im Zentrum des Pingos. Der Wolf kratzte mit den Pfoten über den zerfurchten Lehm. Ein junger Rüde. Er blickte zu ihr auf, und sie streckte den Arm halb nach ihm aus, worauf der Boden unter ihr nachgab und sie, obwohl sie sich umdrehte und einen Satz zurückmachte, zusammen mit einer Ladung Schlamm in den Teich stürzte.
    Der Wolf bellte einmal und zuckte vor Swan zurück. Sie schwamm; obwohl sie tief eingetaucht war, hatte sie bei ihrem Sturz nicht den Grund des Teichs berührt. Am anderen Ende kletterte sie auf einen schmalen Ring aus freiliegendem Schlamm, der einmal um das Loch herum verlief. Sie kam sich vor wie im Innern einer Vase. Die Bresche, die sie bei ihrem Sturz gerissen hatte, bildete eine Tülle.
    Swan vermied es, den Wolf anzuschauen. Sie pfiff und gurrte wie eine Taube und dann wie eine Nachtigall. Sie hatte noch nie gesehen, dass ein Wolf einen Vogel gleich welcher Art aß, aber nur damit er nicht auf dumme Gedanken kam,

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