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2312

2312

Titel: 2312 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Stanley Robinson
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Menschen hatten Unaussprechliches getan, zumindest erzählte man sich das. Schwer vorstellbar, dass jemand sich einem anderen auf solch drastische Weise aufdrängen würde. Was konnte so dringend daran sein? Wozu sollte das gut sein?
    Nach einer Weile war die anhaltende vollkommene Dunkelheit vor ihren Augen mit Farbflecken übersät und dann von Erinnerungen an Bilder, die in ihren Augen gespeichert zu sein schienen. Sie schloss die Lider, und mit einem Mal war alles voller bunter Farbstreifen; es erinnerte sie daran, wie sie vor Jahren einmal die enceladanische Fremdwesen-Suite eingenommen hatte, eine Verrücktheit, an die sie normalerweise nicht be wusst zurückdachte. Die Gläubigen, die um die brennenden Kerzen herumsaßen; Pauline, die erst seit Kurzem Teil ihres Körpers war und sie bat, es nicht zu tun; der kleine Kelch, randvoll mit Enceladusea irwinii und anderen mikroskopischen enceladanischen Lebensformen; der Gläubige, der ihr den Kelch reichte und sagte: »Verstehst du?«, und Swan, die bejahte, die größte Lüge ihres Lebens; der Geschmack des Gebräus, wie Blut; wie ihr Magen sich aufgebäumt hatte; wie das Kerzenlicht nach einem Moment der Schwärze wiedergekehrt war und immer heller wurde, bis man nicht mehr hineinschauen konnte; wie das Tosen von Wellen am Strand ihren Leib durchspült hatte, wie alles sich zum Bersten mit buntem Glitzern angefüllt und der Saturn plötzlich wie ein Konfekt aus Minze und Melone ausgesehen hatte. Ja, eine Phase der Synästhesie, in der all ihre Sinne hell aufflackerten; und irgendwann hatte sie die Erkenntnis getroffen, dass sie nie wieder dieselbe sein würde. War es klug gewesen, sich mit einer fremden Lebensform zu infizieren? Nein, das war es nicht! Sie schrie wie eine Vergiftete; gefangen in einem Kaleidoskop, mit einem Rauschen auf den Ohren, rief sie immer wieder: Aber ich war … ich war Swan … ich war … ich war Swan …
    Sie gab sich alle Mühe, die lebhafte Erinnerung auszutreiben, hinfort in die Finsternis. Vor Anstrengung hatte sich ihr Körper zusammengekrampft, sodass sie sich in der Schwerelosigkeit um die eigene Achse drehte. Dabei gewann sie den Eindruck, dass die Gitarre und die Oboe, die sie gehört hatte, in Wirklichkeit ein gutes Stück voneinander entfernt waren. Handelte es sich überhaupt um ein Duett? Wie war das möglich, wenn die beiden Musikanten einen halben Kilometer voneinander entfernt waren? Durch die Entfernung konnte jeder den anderen nur zeitverzögert hören. Sie versuchte sich auf die Musik zu konzentrieren und herauszuhören, ob sie zusammenspielten oder nicht. In der absoluten Schwärze würde sie es niemals erfahren.
    Missmutig begriff sie, dass es für ihren gesamten Aufenthalt hier so weitergehen würde. Es gab keine Gesichter, an denen sich der Blick festhalten konnte, nicht das Geringste zu sehen – ihre Erinnerungen und ihr Vorstellungsvermögen würden Amok laufen, ihre ausgehungerten Sinne würden um sich selbst kreisen und Fantasiegebilde ersinnen –, nichts außer ihrem eigenen Elend würde ihr Gesellschaft leisten. Reines Sein, unverfälschtes Denken, in dem sich zeigte, was die Welt der Erscheinungen verbergen, aber nicht verändern konnte: die Leere im Herzen der Dinge.
    Als ihr Magen knurrte, aß sie etwas aus ihrem Gürtel. Sie erleichterte sich in einen Beutel in ihrem Anzug, den sie anschließend versiegelt Richtung Boden warf; Putzroboter würden ihn aufspüren und beseitigen. Immer wieder sah sie Alex’ Gesicht vor sich, und sie klammerte sich an diese kostbaren Erinnerungen, die sie niemals aufgeben durfte, obwohl der Anblick sie gleichzeitig vor Schmerz aufstöhnen ließ. Unfähig, sich zu beherrschen, blökte sie wie ein verletztes Tier.
    »Möglicherweise erlebst du gerade eine hypothypotische Episode«, sagte Pauline laut. »Die visuelle Einbildung von Dingen, die du nicht wirklich vor Augen hast.«
    »Halt die Klappe, Pauline.« Doch kurz darauf sagte sie: »Nein, tut mir leid. Red bitte weiter.«
    »In manchen Rhetoriken ist eine Aporie ein vorgeblicher Zweifel, der einer erneuten Attacke vorausgeht, wie bei Gilbert über Joyce. Aber für Aristoteles ist sie ein unlösbares Problem, das sich bei einer Fragestellung aus gleich glaubhaften, aber nicht miteinander vereinbaren Prämissen ergibt. Er schreibt, dass Sokrates Menschen gerne in derartige Widersprüche verwickelt hat, um ihnen zu zeigen, dass sie das, was sie zu wissen meinen, eigentlich nicht wissen. In seinem Buch über Metaphysik

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