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schreibt er: ›Zum Behufe der gesuchten Wissenschaft ist es nötig, zunächst die Gegenstände in Betracht zu ziehen, welche zunächst Zweifel erwecken müssen.‹ Derrida hat den Begriff der Aporien später aufgegriffen, um damit so etwas wie die Leerstellen in unserem Begreifen zu bezeichnen, von denen wir nicht einmal wissen, und nahegelegt, dass wir versuchen sollten, sie zu erkennen. Das ist ein etwas anderer Gedanke, der aber Teil einer Bedeutungskonstellation ist. Das Oxford English Dictionary führt ein Zitat aus J. Smiths Mystical Rhetoric von 1657 an, laut dem sich Aporien auf die Frage beziehen, ›was man in Hinsicht auf etwas Seltsames oder Ambivalentes tun oder sagen soll‹.«
»Wie zum Beispiel jetzt gerade.«
»Ja. Es kommt noch mehr. Das griechische Wort leitet sich aus dem a für ›nicht‹ und aus poros für ›Durchgang‹ her. Aber im platonischen Mythos beschließt Penia, das Kind der Armut, sich von Poros, der Personifikation des Überflusses, schwängern zu lassen. Ihr Kind ist Eros, der die Eigenschaften seiner Eltern in sich vereint. Hierbei wird für verwunderlich erachtet, dass Penia als findig dargestellt wird, während der Wohlstand betrunken und passiv ist …«
»Das ist kein bisschen verwunderlich.«
»Obwohl also Penia nicht Poros ist, ist sie gleichfalls auch nicht a-poria. Man beschreibt sie als weder männlich noch weiblich, weder reich noch arm, weder als bemittelt noch als mittellos. Was den Begriff aporia noch unübersetzbarer macht.«
»Ich bin eine Aporie. Und ich bin in einer Aporie. Diesem Blackliner.«
»Genau.«
All das Reden und Nachdenken war schön und gut – »Danke, Pauline« –, aber letztlich musste sie immer noch eine ganze weitere Woche überstehen, und Alex’ Tod blieb ihr ständig gegenwärtig. Sie schwebte in einem Zwischenreich und versuchte, das zu denken, was ein ungeborenes Kind denken würde. Voller Zweifel, Kind einer Armut. Um als andere Swan wiedergeboren zu werden.
Doch später – in dieser zeitlosen Schwebe, in der sie ihren unablässig zum selben Punkt zurückkehrenden Gedankenschleifen folgte, kam es ihr sehr viel später vor –, später, als ein Signalton in ihrem Anzug ihr mitteilte, dass ihre Reise zu Ende war, begriff sie, dass sie das Raumschiff als dieselbe Swan verlassen würde, als die sie es betreten hatte. Es gab kein Entrinnen.
»Pauline, erzähl mir mehr. Rede mit mir. Bitte rede mit mir.«
Pauline sagte: »Max Brod hatte einmal eine hochinteressante Unterhaltung mit Franz Kafka, von der er später Walter Benjamin berichtete …«
AUSZÜGE (3)
Homo sapiens hat sich bei irdischer Schwerkraft entwickelt, und die Frage, welche Auswirkungen es auf ein Individuum hat, wenn es Zeit in Umgebungen mit weniger als 1 g verbringt, ist noch ungeklärt
Abnehmen der Knochenstärke von 0,5 Prozent bis zu 5 Prozent pro Monat in 0–0,1 g
Menschen, die sich wiederholt Werten von über 3 g aussetzen, haben erwiesenermaßen häufiger Mikro-Schlaganfälle, und es kommt vermehrt zu ernsthaften Schlaganfällen
die biomedizinische Forschung hat ihren Standpunkt zu diesen Fragen im Laufe der Jahre mehr als einmal geändert
Aerobic und Krafttraining kompensieren die physiologischen Auswirkungen von Langzeitaufenthalten in Umgebungen mit moderat niedrigen Gravitationswerten (laut Definition zwischen Lunas 0,17 g und Mars’ 0,3 g), aber nach wie vor gibt es ungelöste Probleme
ein körperlich aktiver Lebensstil verringert deutlich
unterhalb der g-Werte von Luna tritt bei manchen Organen und Geweben ein Etiolement auf, unabhängig davon, wie viel Bewegung
statistisch hochsignifikante Ergebnisse der Versicherungsmathematik lassen vermuten, dass Langlebigkeit jenseits der historischen Richtwerte ohne eine regelmäßige Rückkehr nicht nur in eine 1-g-Umgebung, sondern zur Erde selbst, unmöglich ist. Die Ursachen dafür sind noch unklar, die Fakten jedoch unbestreitbar. Wir möchten zeigen
alle sechs Jahre ein Jahr auf der Erde zu verbringen, und zwischen den Besuchen niemals mehr als zehn Jahre verstreichen zu lassen, erhöht die Langlebigkeit enorm. Wer diese Besuche versäumt, geht ein hohes Risiko ein, viele Jahrzehnte vor
übermäßig sterile Umgebungen sind nicht in der Lage
es wird vermutet, dass das berühmt-berüchtigte »Sabbatjahr« eine Hormesis oder eine Mithridatisation darstellt, bei der ein kurzer Kontakt mit Giftstoffen den Organismus stärkt, damit er größeren
der Griff, in dem die Erde die raumbewohnenden Menschen
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