Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
2312

2312

Titel: 2312 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Stanley Robinson
Vom Netzwerk:
nur denkbaren Rottönen. Die Stadt sah für einen kurzen Moment so aus, als würde man sie im Infrarotspektrum sehen. Der Jubel war ohrenbetäubend. Irgendwo spielte ein Blasorchester – Kiran konnte die Musiker auf über den Platz verteilten Schwebeplattformen ausmachen. Hunderte von Trompeten, Hörner in allen Ausführungen und Tonlagen, Posaunen, Tuben, Euphonien, einfach alles vom kleinen Kornett bis hin zum riesigen Alphorn, erzeugten gemeinsam dissonante Akkorde, erfüllten die Luft mit Getröte und deuteten immer wieder Melodien an, ohne sie jemals auszuspielen. Kiran wusste nicht, ob man das als Musik bezeichnen konnte. Ihr Spiel klang völlig planlos, aber es brachte die Leute zum Jauchzen und Schreien, zum Springen und Tanzen. Sie erschufen sich soeben einen eigenen Himmel.
    Keine Stunde später verdeckte ein heftiger Sturzregen die Sterne und häm merte auf die Kuppel ein, als wollte er sie wegspülen. Ebenso gut hätten sie sich am Fuße eines Wasserfalls befinden können. Die Lichter der Stadt wurden von der Kuppel reflektiert und kehrten, irgendwie flüssig geworden, zu ihnen zurück, sodass die Schatten den Menschen über die Gesichter rannen.
    Irgendwann drückte Swan Kirans Oberarm, auf die gleiche Art, wie er ihren gedrückt hatte, an jenem Abend, als sie sich kennengelernt hatten. Er spürte den Druck und wusste, was sie meinte: Sein Blut erwärmte sich ober- und unterhalb der Stelle, an der sie ihn hielt. »Ist schon gut, alles klar!«, rief er ihr zu. »Danke!«
    Mit einem kleinen Lächeln ließ sie ihn los. Sie standen in dem flüssigen Licht. Die Kuppel über ihnen war von einem gedämpften, milchigen Weiß. Das Stimmengetöse klang wie Wellen an einem Kiesstrand. »Du kommst zurecht?«, fragte sie.
    »Bestens!«
    »Dann bist du mir jetzt also was schuldig.«
    »Ja. Aber ich wüsste nicht, was ich dir dafür geben sollte.«
    »Ich lasse mir was einfallen«, erwiderte sie. »Fürs Erste stelle ich dich Shukra vor. Ich habe vor langer Zeit mal für ihn gearbeitet, und inzwischen ist er hier in ziemlich gehobene Kreise vorgedrungen. Wenn du also für ihn arbeitest und dein Bestes gibst, und wenn er dich mag, dann hast du eine Chance. Ich gebe dir einen Übersetzer, das wird dir helfen.«
    Zurück im Merkur-Haus von Colette frühstückten sie, und dann ging Swan mit Kiran ans andere Ende der Stadt, um ihn ihrem Freund Shukra vorzustellen. Wie sich zeigte, war Shukra ein Mann in den mittleren Jahren, mit einem runden, fröhlichen Gesicht und einem dichten weißen Haarschopf.
    »Die Sache mit Alex tut mir leid«, sagte er zu Swan. »Ich habe gern mit ihr zusammengearbeitet.«
    »Ja«, sagte Swan, »anscheinend haben das alle.«
    Sie stellte Kiran vor: »Ich habe diesen jungen Mann bei einem Spaziergang in Jersey getroffen, und er hat mir aus der Patsche geholfen. Er sucht eine Arbeit, und ich dachte, du könntest ihn vielleicht gebrauchen.«
    Shukra hörte mit unbewegter Miene zu, aber an der Art, wie er die Brauen zusammenzog, sah Kiran, dass er interessiert war. »Was kannst du denn?«, fragte er Kiran.
    »Bauarbeiten, verkaufen, putzen, Buchhaltung«, sagte Kiran. »Und ich kann schnell lernen.«
    »Das wirst du müssen«, sagte Shukra. »Ich habe einige Sachen, die erledigt werden müssen, also suchen wir dir was raus.«
    »Ach ja«, bemerkte Swan. »Er braucht Papiere.«
    »Ah«, sagte Shukra. Swan erwiderte seinen Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. Kiran erkannte, dass sie ihm dafür etwas schuldig sein würde. »Wenn du das sagst«, antwortete er schließlich. »Du bist mein schwarzer Schwan. Ich werde sehen, was ich tun kann.«
    »Danke«, sagte Swan.
    Anschließend musste sie raus zum Raumhafen, um ihren Flug zu erwischen. Sie nahm Kiran beiseite und umarmte ihn kurz. »Wir sehen uns wieder.«
    »Das hoffe ich!«, sagte Kiran.
    »Ganz sicher. Ich komme viel rum.« Sie lächelte knapp. »Wie dem auch sei, uns bleibt immer New Jersey.«
    »Lima«, erwiderte er. »Uns bleibt immer Lima.«
    Sie lachte. »Ich dachte, es wäre Stockholm gewesen.« Sie küsste ihn auf die Wange, und weg war sie.

AUSZÜGE (6)
    Das Wirtschaftsmodell der Raumsiedlungen hat sich zum Teil aus ihren Ursprüngen als Forschungsstationen entwickelt. In den frühen Siedlungen war das Leben keiner Marktökonomie unterworfen; Unterkünfte und Nahrung wurden einem im Weltraum zugeteilt, ähnlich etwa wie auf den Wissenschaftsstationen in der Antarktis. Lediglich für einige nicht lebenswichtige Güter entstand ein freier

Weitere Kostenlose Bücher