2359 - Das Stumme Gesicht
brandete gegen Naigon an. Der Stolze Herr hatte sein Quartier verlassen, stand inmitten seiner Gegner, unberührbar, hieß sie mit knappen Gesten gegeneinander antreten. „Wir müssen das abbrechen!", forderte Ushekka. Ein Gefühl der Kälte, wie er es noch niemals zuvor gespürt hatte, kroch ihm den Nacken empor. „Gegen diesen Gegner haben wir keine Chance."
„Niemals!" Taresk schubste ihn beiseite, hetzte und geiferte, ließ ungeahnte Emotionen aus sich heraus, forderte die Urban-Killer auf, alles zum Wohl des Schutzbundes zu geben.
Sie gehorchten - und sie starben. Alle. „Es ist vorbei", flüsterte Ushekka dem Wasserträger zu. „Er hat uns besiegt. Wir müssen flüchten."
Naigon schien sie entdeckt zu haben. Mit langen, weiten Schritten überwand er die Leichenberge. Die Naht in seinem Gesicht öffnete und schloss sich konvulsivisch, während sich unheimliche Ruhe ausbreitete. „Das kann einfach nicht wahr sein ..."
Taresk ging auf die Knie, beugte das Haupt, sackte vollends in sich zusammen, jammerte und schluchzte.
Ushekka hielt es nicht mehr an der Seite des Wasserträgers. Nur noch sein eigenes Schicksal zählte. Er musste weg, so rasch wie möglich Distanz zwischen sich und diesen Todesgott bringen, dem nichts, gar nichts gefährlich zu sein schien... „Genug!", schrie Ushekkas Hintergrundbewusstsein - und die Simulation erlosch.
*
Taresk entfernte die Rezeptoren von seinen Schläfen und richtete sich neben ihm auf.
Gemeinsam verließen sie die abgedunkelte Kammer, begaben sich schweigend in den Auswertungsraum und befahlen den Überwachungstechnikern, augenblicklich zu verschwinden.
Sie betrachteten die Protokolle. Die Kurven der Hochrechnungen, den Probabilitätsgehalt aller Simulationszyklen und die Wechselwirkungen der Wahrscheinlichkeitsebenen. „Alle Voraussagen bestätigen, dass der Stolze Herr dazulernt und stetig stärker wird", sagte Ushekka nach einer unangenehm langen Redepause. „Er scheint keine Grenzen zu kennen."
„Es muss ein Fehler in den Berechnungen liegen", beharrte Taresk. Kein Wort verlor er über das schändliche Verhalten, das er über seine Gehirnströme in die Simulation eingebracht hatte. „Niemand kann derartige Kräfte entwickeln, wie es dieser Naigon tut."
„Wir sollten uns damit abfinden." Ushekka verließ den Raum. „Es gibt höhere Wesenheiten als uns, denk nur an den Herrn Heptamer und das Hexameron aus den rotglühenden Zeiten der Letzten Tage." Es rumorte in seinem Magen. Er wollte ins Bett, eine Dosis Ospeno genießen und dann schlafen, nichts als schlafen. Und vergessen. „Ich glaube diesen Simulationen nicht."
Taresk marschierte neben ihm her, packte ihn am Arm, riss ihn herum. „Die Extrapolationen unserer Rechner beruhten auf viel zu wenig Datenmaterial ..."
Die unhaurischen Schwächen des Wasserträgers offenbarten sich immer mehr. Lange Zeit hatte er seinen schändlichen Charakter hinter einer Tünche aus Disziplin und Hochnäsigkeit verborgen. Nun aber, da es auf Verstand und Verständnis ankam, versagte er kläglich. „Es ist vorbei", sagte Ushekka. „Sieh es endlich ein. Wir sind Insekten im Vergleich zu ihm. Je rascher wir das akzeptieren, desto besser für uns. Wir werden den Stolzen Herrn niemals besiegen und schon gar nicht unser Versprechen dem Obersten gegenüber erfüllen können. Naigon ist uns haushoch überlegen. Wahrscheinlich sitzt er in seinem Versteck, das wir immer noch nicht entdeckt haben, und lacht über unsere lächerlichen Versuche, ihn zu fassen."
Er riss sich los, marschierte weiter, drehte sich nicht mehr um.
Sein Zimmer erschien ihm wie die letzte Zuflucht in einer Welt, die kleiner und kleiner wurde.
Ushekka packte den Ospeno-Topf aus, schöpfte einen zusätzlichen Löffel des Breis in den Hitzedampf und begann, gierig am Schlauch zu saugen.
Was machte es schon aus, wenn er ein wenig mehr über die Stränge schlug? Sein Tod war bereits besiegelt.
Bevor sich Ushekka dieser alles übermannenden Lust der Völlerei hingab, kam ihm ein letzter, schrecklicher Gedanke: Was würde sein, wenn Naigon von sich aus aktiv wurde? Wenn er die Rollen wechselte und vom Gejagten zum Jäger wurde? Wenn er aus Lust und Laune die Macht auf Vibe-Lotoi an sich riss? 11.
Friedensfahrer „Ihr seid beim Funkturm?"
Kantirans Gesicht blickte Cosmuel auf ihrem kleinen Armband-Bildschirm entgegen. „Ja", bestätigte sie knapp. „Gibt's was Neues?"
„Die Behörden haben in der Tat ein wenig schlampig ermittelt",
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