2378 - Der Erste Kybernetiker
er seine Entdeckungen an die Solare Residenz hatte weitermelden können, würde er irgendetwas anderes unternehmen können, was den Interessen ESCHERS entgegenlief. Der Hypnoblock würde ihn daran hindern.
Während der Erste Kybernetiker durch die menschenleeren Korridore einer mit positronischen Grundelementen angefüllten Etage ging und sich über seine Situation im Klaren zu werden versuchte, rief er sich die Erklärungen der beiden Avatars ins Gedächtnis. Sie hatten von der ungeheuren Verlockung gesprochen, die von der Hyperdim-Matrix ausging. Sie hatten betont, dass es für die Alten und Kranken, die die neue Prozessoren-Zielgruppe bildeten, förmlich ein Segen wäre, in ESCHER einzugehen, dass es ein fantastisches Angebot war, das niemand mit klarem Verstand abschlagen würde.
Nur ... warum agierte ESCHER dann aus dem Verborgenen? 27. April 1345 NGZ Savoire saß an dem Platz, der trotz allem einer seiner liebsten war: die Beobachtungskammer. Dort mischte sich beim Anblick der Prozessoren ein schales, beinahe ängstliches Gefühl mit einem gewissen hoffnungsvollen Prickeln.
Obwohl er ESCHERS weiterer Entwicklung bang entgegensah, verfolgte er sie mit Faszination und nicht geringer Neugier. Seit das erste Entsetzen vorüber war, gewann er von Stunde zu Stunde mehr einen anderen Blickwinkel. Seit Jahren investierte er all seine Energie und sein Leistungsvermögen in das Projekt, das zu seinem Lebensinhalt geworden war. Es entwickelte sich in eine ungeahnte Richtung, in eine gefährliche Richtung noch dazu; nichtsdestotrotz war es eine wissenschaftliche Sensation, mit der sein Name verknüpft sein würde.
Keine schlechte Karriere für einen Hinterwäldler, für einen Zyklopen.
Nichts konnte verhindern, dass Savoire einen gewissen Vaterstolz entwickelte.
War ESCHER nicht sein Projekt, sein Kind? Natürlich war ihm alles über den Kopf gewachsen, aber musste es nicht das Ziel eines. Vaters sein, dass seine Kinder ihn letztlich überragten, dass sie größere Bedeutung entwickelten als er selbst?
Genau das war ihm gelungen, wenn auch das Ziel eigentlich ein anderes gewesen war und ohne das Einwirken eines mächtigen Geistwesens keinen Erfolg gegeben hätte. ESCHER war schon zu diesem Zeitpunkt bedeutender als alle diejenigen, die an ihm arbeiteten. Die Geburt der Parapositronik hatte die Wissenschaftler zu Schöpfern werden lassen, hatte aus den Projektleitern...
Er stockte, doch schon war der Gedanke in ihm aufgestiegen. Er und Kowa waren zu Göttern geworden, die Leben erschaffen hatten.
Ein absurder, hochtrabender, blasphemischer Gedanke. Laurence Savoire schlug die Hände gegen den Kopf, drückte die Finger gegen die Schläfen, bis es schmerzte. Hybris.
Diese Überlegung war reinste Hybris.
Hochmut in seiner klarsten Form. „Nein", sagte er, und er schrie es noch einmal hinaus: „Nein!"
Kann man einen Menschen für seine Gedanken strafen?, fragte er sich. Bin ich überhaupt dafür verantwortlich zu machen, was ich denke? Oder kommen Gedanken von alleine, und es liegt nur in meiner Verantwortung, wie ich mit einem solchen Impuls umgehe? Ich weise ihn von mir. Ich bin kein Gott, bin kein Schöpfer, sondern trage die Verantwortung für ein vollkommen außer Kontrolle geratenes Experiment. Menschen sterben und integrieren sich in eine höhere Wesenheit, die nie hätte entstehen dürfen und deren Gesinnung ich nicht einschätzen kann.
Vielleicht wird es zu einer Katastrophe ungeahnten Ausmaßes kommen, und ich werde schuld sein. Obwohl ich es nie wollte.
Während zwei Seelen in seiner Brust stritten, beobachtete der Erste Kybernetiker, wie Pal Astuin und Merlin Myhr die Gedankenkammer betraten.
Zwischen ihnen schwebte eine Antigravtrage, auf der ein schmächtiger Mann mit schütterem grauen Haar lag.
Seine Gesichtszüge waren eingefallen, die braunen Augen blickten trüb und lagen tief in den Höhlen. Falten furchten Stirn und Wangen.
Savoires medizinisches Wissen reichte weit genug, dass er diesen Anblick einordnen konnte. Wen auch immer die beiden Avatars als neuen Prozessor ausgewählt hatten, er litt an einer mindestens so schrecklichen und tödlichen Krankheit wie der Zentrumspest und war mit Schmerzmitteln vollgepumpt.
Die beiden Begleiter hoben den gebrechlichen Leib auf einen freien Kreuzkokon.
Dankbarkeit legte sich auf die Züge des alten Mannes. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, als Astuin das glänzend schwarze Etui zog und es ihm in die Hand gab: Savoire schaltete ein Akustikfeld
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