2378 - Der Erste Kybernetiker
allen Punkten. Dein Denken kreist sehr wohl um Worte, und nur weil du nicht in der Lage bist, die Chancen und großartigen Möglichkeiten zu erkennen, die ESCHER seinen Prozessoren bietet, darfst du nicht von dir auf andere schließen. Ich habe anders entschieden als du. Mein Partner hat anders entschieden und ebenso Rodin Kowa. Sogar deine Freunde Sybel Bytter und Wilbuntir Gilead. Genauso andere Prozessoren."
Myhrs unmittelbare Nähe weckte noch mehr Nervosität in Savoire. „Warum?
Warum produziert ESCHER diese Sehnsucht in denen, die sich ihm ausliefern?"
„Er benötigte neue Prozessoren, um zu gedeihen. Die Genese ist noch nicht abgeschlossen. Deshalb schickt die Parapositronik uns aus. Wir werden in den kommenden Wochen und Monaten weitere Freiwillige suchen."
„Was heißt das, ESCHER schickt euch aus?" Nach wie vor war die Frage nicht geklärt, wie Astuin und Myhr in der Hyperdim-Matrix und gleichzeitig in seiner Wohnung existieren konnten. „Seid ihr überhaupt die, für die ich euch halte?
Wenn ihr in ESCHER aufgegangen seid, dann seid ihr tot. Wie kommt es dann, dass ich euch lebendig vor mir sehe?"
„Lebendig?" Myhr bückte sich, brachte seinen Mund nahe an Savoires Ohr. Die nächsten Worte flüsterte er. „Bist du dir da so sicher?"
„Wwas ... wie ..."
Myhr griff nach der Espressotasse und führte sie vor seinen Mund. „Sollte das hier nicht Appetit in mir wecken, wenn ich lebendig wäre? Aber ich benötige es nicht.
Nie mehr." Achtlos stellte er die Tasse ab. „Denn ich bin kein Lebewesen im eigentlichen Sinn. Alles, was ich war, alles, was ich immer noch bin, ist Teil der Matrix."
Savoire suchte nach dem passenden Begriff. „Du bist eine paraphysikalische Projektion? Ein ... ein quasilebendiger Avatar?"
„Unsere Aufgabe besteht in der Rekrutierung neuer Bewusstseine. Und zwar einer bedeutenden Menge neuer Bewusstseine. ESCHER muss wachsen, und dazu benötigt er Hunderte, vielleicht Tausende Terraner."
Savoire ertrug die unmittelbare Nähe Myhrs nicht mehr, den er bis vor Sekunden für einen Menschen gehalten hatte.
Tatsächlich?, fragte er sich sofort. Oder ist er das bestaunenswerte Ergebnis einer kybernetischen Sensation?
Er stand auf und ging zu dem winzigen, schießschartenartigen Fenster seiner Wohnung. „Ihr könnt nicht so viele Terraner verschwinden lassen, ohne dass es auffällt. Zumal ihr nicht irgendwelche Opfer entführen könnt, sondern hochbegabte, geniale Geister benötigt."
„Du brauchst nicht zu versuchen, uns zu beeinflussen", ergriff Astuin das Wort.
Oder die Projektion dessen, was einst Pal Astuin gewesen war. „Nenn es Opfer oder Freiwilliger oder Prozessor Deine Wortwahl spielt keine Rolle. Nur das Ergebnis zählt."
„Aber mit einem hast du recht", ergänzte Merlin Myhr. „ESCHER ist sich des Problems bewusst. Ab sofort gilt ein spezielles Selektionsverfahren. Die neuen Prozessoren müssen alt sein oder krank. Ihr Tod wird nicht auffallen. Und sie werden mit Freuden das Angebot annehmen, in ESCHER weiterzuleben. Niemand wird gezwungen."
„Aber wie ..." Savoire kam nicht dazu, seine Frage zu beenden.
Astuin zog ein kleines schwarzes Etui aus der Tasche seines Anzugs. Es war gerade so groß wie seine Handfläche und glänzte, als sei es mit Klarlack bestrichen. Der Avatar drehte den kleinen Verschlussknopf, und mit deutlich hörbarem Klacken sprang das Etui auf.
Darin schwebte ein winziger irisierender Funkenball.
Savoire wusste sofort, was er vor sich sah.
Er hatte exakt dasselbe in größerer Form in der Gedankenkammer gesehen. „Das ist ein Splitter des Nukleus der Monochrom-Mutanten?", fragte er dennoch. „Mit seiner Hilfe wird das Bewusstsein eines Sterbenden gebunden und dadurch vor dem Tod bewahrt. Der Splitter übernimmt die Aufgabe, den Prozessor in die Hyperdim-Matrix zu überführen. Er ist die Garantie für den Handel, den ESCHER mit den Prozessoren abschließt. Nur der Leib wird sterben, die Seele aber wird weilterleben." Astuin schloss mit einer gemessenen Bewegung das Etui. In dem Moment, als der Verschluss knackte, fügte er hinzu: „Für immer."
*
Der Alltag hatte wieder begonnen - zumindest soweit man angesichts der Vorkommnisse von Alltag sprechen konnte. Wenn Savoire daran dachte, dass das paramechanische Netzwerk in der Gedankenkammer in Betrieb war und etliche Prozessoren in den Kreuzkokons lagen, drängte alles in ihm danach, die Anlage erneut stillzulegen. Aber er versuchte es nicht einmal.
Ebenso wenig wie
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