239 - An der Pforte des Hades
die Füße. Er wälzte sich auf den Rücken. Seine grünen Augen blinzelten Chichi herausfordernd an. Der Junge ging in die Hocke und kraulte das weiche Bauchfell des Tieres. Es war sein einziger Spielgefährte hier. Chichi besuchte nicht mehr die Schule. Dreimal die Woche kam ein Lehrer hierher, um ihn zu unterrichten. Das Leben war trostlos geworden. Düster wie die Jahreszeit zwischen Winter und Frühling. Die Spielgefährten fehlten ihm. Und seine Mutter.
Mam. Was sie wohl sagen würde, wenn sie wüsste, dass Sable bei ihm im Bett schlafen durfte? Chichis Blick fiel auf sein Bündel, das neben der Treppe des Hauses lag. Es enthielt Kleider, Bücher und ein Etui mit Werkzeugen, die seine Mutter ihm zum Geburtstag geschenkt hatte. Die Haushälterin hatte es dorthin gestellt.
»Heute ist ein großer Tag, Chichi. Du wirst zu reichen Leuten ziehen. Sie werden jetzt deine Eltern sein. Und du wirst auch wieder in die Schule gehen«, hatte sie ihm tonlos mitgeteilt. Dann war sie im Haus verschwunden, wo auch Onkel Andreij und der reiche Mann waren, die noch etwas zu besprechen hatten. »Männergespräche«, hatte Onkel Andreij ihn wissen lassen.
Dass es dabei um einen lohnenden Handel für Baschk ging, wusste der Junge nicht. Der »reiche« Mann bezahlte gut für einen Stammhalter. Auch ahnte Chichi nichts davon, dass seine Mutter unter Ausschluss der Öffentlichkeit hingerichtet worden war. In einem Dreizeiler von Nischni-Nowgorods Tageblatt wurde ihr Tod kurz als tragischer Unfall beschrieben.
Das Einzige, was er mit der ganzen Klarheit seiner Kinderseele wahrnahm, war, dass Onkel Andreij nicht mehr so freundlich zu ihm war wie zu Beginn. Darum machte es Chichi nicht allzu viel aus, dieses Haus zu verlassen. Und die Aussicht auf andere Kinder stimmte ihn sogar ein wenig fröhlich. »Dann sind wir nicht mehr so alleine bis Papa kommt«, flüsterte er Sable ins Ohr.
Als es dann so weit war und er auf dem großen Schlitten des reichen Mannes saß, der zukünftig sein Vater sein sollte, winkte er ein letztes Mal der Haushälterin im Garten zu. Von Onkel Andreij war nichts zu sehen.
Während der Fahrt antwortete Chichi nur einsilbig auf die Fragen des Fremden. Ab und zu warf er einen verstohlenen Blick auf das Gesicht des Mannes. Unter der hellen Mantelkapuze ragten eine rote Hakennase und ein bärtiges Kinn hervor. Tiefe Falten durchfurchten die Mundwinkel des Fremden. Er war alt, fand Chichi, alt wie ein Großvater.
»Nun, Chichi, ich muss noch in meine Fabrik, die etwas außerhalb von der Stadt liegt. Das bedeutet eine Stunde länger in der Kälte. Wirst du das aushalten?«
Nachdem der Junge bejahte, erzählte der reiche Großvater, wie die Felle in seiner Fabrik hergestellt wurden. Der Kleine hörte aufmerksam zu. Doch als sie die Stadtgrenze hinter sich gelassen hatten, fesselte ihn nur noch die weite Ebene, die sich dort vor ihnen auf tat. Moosgrüne Grasteppiche, braune Erdschollen und mannshohe Bäume, so weit das Auge reichte. Irgendwo dahinter begann der Geröllgürtel, der zu den Eisfeldern führte. Bei diesem Gedanken klopfte Chichis Herz schneller. Ob er den Fremden einfach bitten sollte, mit ihm dorthin zu fahren, um nach Papa zu suchen? Doch irgendwie erschien ihm das ungehörig.
Ein lautes Trompeten riss ihn aus seinen Gedanken. Es kam von oben. Drei riesige Vögel glitten über sie hinweg. »Albatrosse«, bemerkte der Fremde. Chichi betrachtete die weißen Schwingen der Tiere. Er dachte daran, was ihm sein Vater über diese Vögel erzählt hatte. »Sie sind Botschafter von Nachrichten«, hatte er ihm erklärt. Ob von guten oder schlechten, hatte er nicht gesagt.
Als er wieder nach vorne schaute, sah er in der Ferne drei Gestalten auf dem Fahrweg stehen. Sein zukünftiger Vater drosselte die Geschwindigkeit. »Verflucht noch mal, wo kommen die denn plötzlich her!«, schimpfte er. Gleichzeitig löste sich Sable vom Schoß des Jungen und verkroch sich in den Fußraum des Schlittens. Ein Knurren grollte aus seiner Kehle. Chichi warf ihm verwundert einen kurzen Blick zu. Dann wandte er sich wieder den Gestalten zu, die sich jetzt dem Fahrzeug näherten.
Es waren Männer in Felljacken und schweren Stiefeln. Die Mützen und Kapuzen hingen ihnen tief in die Stirn, sodass von ihren Gesichtern kaum etwas zu erkennen war. Einer von ihnen hob den Arm.
Neben Chichi machte der reiche Mann eine Vollbremsung und stellte fluchend den Motor aus. »Was ist los? Verschwindet von der Straße!«, rief er
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