24 - Ardistan und Dschinnistan I
Und ich hatte und habe sie ja noch viel, viel zu lieb, als daß ich die Sünde auf mich nehmen möchte, ihr Grab geöffnet und geschändet zu haben!“
In diesem Augenblick war ein starker, tiefer und langgezogener Ton zu hören. Er klang fast wie von einem Alphorn. Er kam vom Fluß her. Ihm folgten weitere Töne, die ganz dieselbe Klangfarbe besaßen, aber entweder höher oder tiefer waren als der zuerst erklungene. Es schien ein Signal, oder richtiger, eine Fanfare sein zu sollen.
„Das ist das Zeichen der Hukara (der Verächtlichen)!“ rief der Dschirbani aus, sichtlich freudig überrascht. „Ich habe ihnen gestern sagen lassen, daß du heut um diese Stunde bei mir sein werdest. Sie haben sich bis jetzt beraten und kommen nun, mir mitzuteilen, was sie beschlossen haben.“
„Wer und was sind diese Hukara?“ fragte ich.
„Die Zurückgesetzten, die Geringgeschätzten, die Verachteten“, antwortete er. „Ssahib, du wirst jetzt erfahren, daß ich nicht der törichte, untätige Knabe bin, als der ich dir erscheinen mußte. Meine Gefangenschaft war nicht ganz unfreiwillig. Sie hat empört. Das wußte ich, und das wollte ich. Zu den Hukara gehören alle, welche unsere bisherige Feigheit den Tschoban gegenüber für eine Schande halten. Sie protestieren, so oft und so laut sie können, gegen das bisherige Verfahren. Sie haben mich zu ihrem Anführer gewählt. Das gab dem Sahahr Veranlassung, mich wieder einmal für irrsinnig und für moralisch räudig zu erklären und mich gar in den Stachelzwinger zu stecken. Weil ich, ihr Anführer, ein Verachteter und Verfolgter war, wurden sie mir gleichgestellt und mit dem Namen Hukara bezeichnet. Sie lachten darüber. Da kam die Kunde, daß die Tschoban einen neuen Einfall beabsichtigen und daß zwei fremde Gäste kommen würden, die den Erstgeborenen der Tschoban gefangengenommen haben. Das gab hellen Jubel. Es wurden übermenschliche Heldentaten von euch erzählt, und jedermann glaubte an sie. Da kamt ihr gestern selbst, und gleich euer erstes Auftreten war diesen Berichten angemessen. Du holtest mich aus dem Zwinger, worauf mein erstes war, die Hukara zu benachrichtigen, daß unsere Zeit gekommen sei. Ich sprach mit den wichtigsten von ihnen. Sie hatten schon gehört, daß du dich anheischig gemacht hast, die Tschoban im Engpaß Chatar gefangenzunehmen, ohne daß ein Tropfen Blut zu fließen braucht. Es wurden sofort nach allen Richtungen Boten gesandt. Heute vormittag ist Beratung gewesen. Nun kommen sie, mir das Ergebnis derselben mitzuteilen. Erlaube, daß ich gehe, sie zu empfangen. Ich kehre schnell zurück.“
Der Dschirbani entfernte sich. Während seiner Abwesenheit nahm ich die Karte des Landes der Ussul vor, die er mir geholt hatte. Es kam mir besonders auf die Gegend des Engpasses Chatar an. Sie war sehr deutlich und sehr eingehend gezeichnet. Indem ich sie betrachtete und über diese Linien nachdachte, wurde ich in Gedanken nach dem Palast von Ikbal und auf das Schiff Wilahde versetzt, wo ich diesen Engpaß und seine Umgebung mit ganz besonderem Interesse studiert hatte. Die damals gemachten Aufzeichnungen hatte ich zwar vergessen mit vom Schiff zu nehmen; jetzt aber kehrten sie zu mir zurück. Sie standen so deutlich vor mir, als ob ich diese Studien soeben erst beendet und die Notizen hierüber noch gar nicht niedergeschrieben hätte. Und als ob mir diese ebenso klare wie ausführliche Erinnerung gerade zur richtigen Zeit gekommen sei, stellte sich in diesem Moment der Dschirbani wieder ein und sagte:
„Ssahib, der gegenwärtige Augenblick ist ungeheuer wichtig. Es scheint sich eine Umgestaltung aller jetzigen Verhältnisse vorbereiten zu wollen. Sag mir aufrichtig, ob es wirklich möglich ist, die Tschoban am Engpaß zu besiegen, ohne daß es uns einen Tropfen Blut kostet!“
Ich hatte mich niedergesetzt gehabt, bei dieser Frage aber stand ich schnell auf. Ihre Bedeutung wollte sich mir fast fühlbar auf die Schultern legen. Auch der junge, edle Ussul war ernst; aber es war ein freudiger, begeisterter Ernst, der aus seiner Stimme sprach, und so klang auch die meinige zuversichtlich heiter, als ich antwortete:
„Ja, es ist möglich! Doch setze ich voraus, daß die Bedingungen vorher erfüllt werden, ohne die es nicht geschehen kann.“
„Nenne sie mir, diese Bedingungen!“
„Erstens, daß die Tschoban höchstens viermal stärker sein dürfen als wir –“
„Was sagst du? Wie?“ unterbrach er mich. „Wir müssen nicht stärker sein als
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