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24 - Ardistan und Dschinnistan I

24 - Ardistan und Dschinnistan I

Titel: 24 - Ardistan und Dschinnistan I Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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werden, genügte es schon nicht mehr, laut zu sprechen, sondern er mußte rufen:
    „So höre ich mit den Tieren auf und komme zu den Menschen! Du bist ein Kind der Holdseligkeit und Liebenswürdigkeit – eine Tochter des Ebenmaßes und der Wohlgestalt – so höre doch! Bleib an der Ecke stehen! – Eine Schwester der Anmut und der Augenweide – bist eine Prinzessin, eine junge Königin, zu deren Füßen – o Qual, o Pein, o Schmerz; sie bleibt nicht stehen! Sie verschwindet um die Ecke! Und ich habe ihr noch gar nicht gesagt, daß sie ein Engel ist, sogar ein Stern, ein Stern, der sich –“
    Mehr hörte ich nicht, denn hinter mir rief es:
    „Effendi, siehst du mich? Ich komme!“
    Ich schaute zurück. Sie war soeben um den letzten Winkel des Weges gebogen und für Halef unsichtbar, für mich aber sichtbar geworden. Ich blieb stehen und ließ sie herankommen. Ihr Gesicht glänzte vor Vergnügen, und aus ihren Augen strahlte ein seelischer Lebensüberschuß, der in ihrer jetzigen Einsamkeit in Gefahr gewesen war, zu verkümmern! Es ging ihr genauso wie der großen Menschenfreundin, deren Namen sie trug, nämlich der Barmherzigkeit: wenn sie sich nicht betätigen kann, verschwindet sie in sich selbst.
    „Ich bin nur zehn Minuten lang mit deinem Hadschi allein gewesen“, sagte sie, „aber ich kenne doch schon seine ganze Berühmtheit nebst sämtlichen Vorzügen, die er besitzt. Auch Hanneh, die lieblichste unter den Blumen, kenne ich bereits, und ebenso auch Kara Ben Halef, seinen Sohn, der einst noch viel berühmter als sein Vater sein wird. Effendi, ich bin ihm entflohen, weil er die Absicht hatte, mich zu loben und zu preisen. Er wollte unten bei den Steinen beginnen und erst oben am Himmel aufhören. Aber nicht ich verdiene dieses Lob, sondern er selbst. Er funkelt wie ein Edelstein und leuchtet wie ein Stern. Zwischen beiden liegt das Pflanzen-, das Tier- und das Menschenreich mit all den schönen Namen, die auf ihn noch besser passen würden, als auf mich. Seine Liebe zu dir aber ist so innig, so grenzenlos und rührend, wie die Liebe des Leibes zur Seele. Sie hat ihm sofort mein ganzes Herz gewonnen!“
    Wie die Liebe des Leibes zur Seele! Welch ein Ausdruck, welch ein Vergleich! Von einem so jungen Mädchen! Ich sah von der Seite in ihr liebes, schönes Gesicht herunter. Der Ausdruck desselben war gar nicht so, als ob sie etwas besonderes gesagt hätte. Wenn dieser Ton für sie der gewöhnliche war, in dem sie mit ihrem Vater verkehrte, so stand mir die Freude bevor, heut einen hochdenkenden Orientalen kennenzulernen.
    Der Weg war an vielen Stellen so schmal oder so steil, daß Merhameh vorangehen mußte. Eine Unterhaltung zu führen, war also nicht bequem. Sie zog aber auch ohnedies meine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Eine jede ihrer kräftig schönen, harmonischen Bewegungen nahm das Auge gefangen. Sie kam mir vor wie ein Gedicht, wie ein lebendiges Sonett, von Gott selbst in Fleisch und Blut geschrieben, um zu der Schönheit ihres Namens die gleiche Schönheit ihres Körpers zu gesellen.
    Kurz bevor wir oben ankamen, holte uns Halef ein. Er hatte sich gesputet, meine Begrüßung mit Abd El Fadl nicht zu versäumen. Ich sah ihm an, daß er, als er uns erreichte, eine scherzhafte Bemerkung für die Tochter auf der Zunge hatte; dieser Scherz aber zog sich vor dem Ernst und der Erhabenheit des Ausblicks zurück, der sich uns jetzt bot, da wir die Höhe erreichten. Wir standen jetzt auf dem einen, dem westlichen Pfeiler des Tores und hatten nur noch die Querplatte zu erklimmen, welche den oberen Schluß der Öffnung bildete. Als wir das getan hatten, sahen wir zu beiden Seiten das unendlich weite Meer und hinter und vor uns die scheinbar ebenso weite Wüste liegen. Kein Schiff, kein Boot belebte den Ozean, der nicht, wie gestern, in langgestreckten blauen Wogen, sondern in kurzen dunkelgrünen, schaumgekrönten Wellen ging. Es sah aus, als bestehe dieser Schaum aus den Atmungsperlen eines sich unten in der Tiefe vollziehenden, geheimnisvollen Lebens, welches sich zwar nach oben sehne, dieser Sehnsucht aber nur in Gestalt dieser Perlen folgen könne. Zurückblickend, sahen wir weiter nichts, als ganz draußen am Rand der sandigen Öde eine kleine winzige Erhöhung, die man kaum noch zu erkennen vermochte. Das war der Brunnen mit dem Engel. Und vorwärtsschauend flog der Blick über eine ungemessene, trostlos erscheinende Wüsteneinsamkeit, die für unser Auge durch die vulkanischen Rauchwolken

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