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241 - Splitterzeit

241 - Splitterzeit

Titel: 241 - Splitterzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Weinland
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Stille senkte sich über den im gelben Staub liegenden Gefallenen – unter dem im nächsten Moment die Erde zu beben begann!
    ***
    Thekona lächelte still in sich hinein.
    Der Tag hatte mit einem Lichtzauber begonnen, wie er nur selten vorkam. Flammenzungen gleich war die Röte in allen erdenklichen Schattierungen über den Rand der Ebene gekrochen und hatte den Himmel gefärbt. Dort, wo die Welt zu enden schien, das bewohnte und bewirtschaftete Land zumindest, und nur noch der Horizont existierte.
    Man musste sich schon bis dort an den Rand begeben, um zu erkennen, dass die riesige Welt darunter noch einmal ihren eigenen Horizont hatte – und eine Weite, die kein Angehöriger ihres Stammes je in ihrer Gänze erforscht hatte.
    Unendlich nannten die Alten jene »untere Weltenebene«.
    Aber Unendlichkeit war nichts, was ein Konoi anstrebte. Dafür waren die Konoi zu bodenständig, zu sehr in der Erde und dem Fels verwurzelt, den sie Heimat nannten. Kaum ein anderes Volk, dem sie jemals begegnet waren – oder besser: das ihnen begegnet war –, lebte in solcher Harmonie und Symbiose mit seiner Umgebung wie Thekonas Leute.
    Ja, meine Leute, dachte die junge Frau warm. Auch wenn ich eine Betrügerin bin, so sind sie doch genau das geworden: meine Familie, meine Heimat. Könnte ich sie überhaupt noch verlassen, wenn ich die Chance dazu erhielte?
    Sie hatte oft darüber nachgedacht. Kein Konoi hatte auch nur annähernd so viel Zeit wie sie, über das Leben als solches und seinen tieferen Sinn nachzugrübeln.
    Aber trotz dieser Voraussetzung war es ihr nie gelungen, eine Antwort auf ihre Frage zu finden; keine jedenfalls, von der sie in ihrem Kern so überzeugt gewesen wäre, dass sie auch dann noch im Fall der Fälle Bestand hätte.
    Der Fall der Fälle.
    Sie seufzte. Ihr Blick wanderte hinter sich, wo die Bauten ihres Stammes emporwuchsen wie aus Lehm geformte Nester. Es war empfindlich kalt. Die Dunkelheit hatte gerade erst ihren immerwährenden Kampf gegen das Licht verloren (so wie das Licht in einigen Stunden seinen immerwährenden Kampf gegen die Dunkelheit verlieren würde), und die Röte des Himmels hatte sich fast verflüchtigt. Ein kristallklarer Tag zog herauf. Bis zum Mittag würde Thekona den Fellmantel ablegen können, und wenn sie auf den Feldern half, würde sie sogar ins Schwitzen kommen.
    Wie jeden Tag.
    Wie jeden Tag in dieser traumhaften Welt, die so ganz anders war als die eigene…
    Übergangslos verwackelte Thekonas Sicht, und nicht nur das: Das Beben entsprang nicht nur ihrer Einbildung, es war real, und es pflanzte sich bis in ihren Körper fort. Sie rutschte von dem kniehohen Stein und landete mit dem Gesäß auf dem Boden, der immer noch vibrierte, von einem dumpfen, hohlen Rumoren begleitet, das aus dem Bauch der Erde zu kommen schien.
    Alarmiert warf Thekona einen Blick hinter sich zu den Behausungen, bei denen sich die Erschütterung sehr viel drastischer bemerkbar machte als hier auf freiem Feld. Voller Bestürzung sah sie, wie sich Brocken von den in den Sandstein gehauenen Bauten lösten und herab polterten. Am linken äußeren Rand brach eines der Pueblos sogar völlig in sich zusammen, und vermutlich kamen die Schreie, die jäh endeten, von dort.
    Nur ein paar Herzschläge dauerte das Beben, und als es endete, kam Thekona sofort wieder auf die Beine. Für einen Moment sah sie sich gehetzt nach allen Seiten um, dann stürmte sie zu der Treppe, die ins Dorf führte.
    Noch bevor sie die unterste Stufe erreichte, kamen ihr von oben erste Angehörige ihres Stammes entgegen. Sie waren mindestens so durcheinander wie Thekona, manche bluteten sogar aus Platzwunden am Kopf.
    Sie wollte helfen, aber der Schamane, der unter den Ersten war, die von den Pueblos weg flohen, gab ihr mit wenigen Gesten zu verstehen, dass er sich um die Verletzten kümmern würde – auf seine Weise.
    Aus Respekt vor seiner Autorität trat Thekona ins zweite Glied zurück und hielt Ausschau nach Freunden und Verwandten.
    Es dauerte nicht lange, bis sich alle, mit denen sie tiefer verbunden war, wohlbehalten vor der Sandsteinwand versammelt hatten, und gemeinsam diskutierte man den Vorfall, der einmalig war in der überlieferten Geschichte der Konoi.
    Alles andere als fremd waren Beben dieser oder ähnlicher Art hingegen Thekona. Aber sie war bemüht, ihr überlegenes Wissen nicht so klar zum Ausdruck zu bringen, wie sie es gekonnt hätte. Allerdings kostete sie ihre Zurückhaltung viel Überwindung.
    Der Schamane

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