241 - Splitterzeit
besonderen Kräften, der sich seiner annahm.
Gleichzeitig fragte eine skeptische Stimme in ihm, ob er sich die Frau nicht nur einbildete. Vielleicht schüttete sein Gehirn ein Übermaß an halluzinogenen Stoffen aus, um ihm das Sterben zu erleichtern – weil es bereits wusste, dass er rettungslos verloren war. Die Verletzungen, die er sich beim Sturz zugezogen hatte, schienen ihm das Rückgrat gebrochen zu haben.
Die Vorstellung, vielleicht tatsächlich querschnittgelähmt zu sein, trieb ihm kalten Schweiß auf die Stirn.
Aber hätte er dann die über den ganzen Körper verteilten Brüche spüren können?
Er wünschte, er hätte die Frau besser sehen können.
Sie sagte etwas in einer kehligen Sprache, die er so oder so ähnlich schon einmal gehört zu haben meinte. Der Druck auf seine Stirn verstärkte sich.
Matt konnte plötzlich nicht mehr die Augen offen halten. Bleierne Müdigkeit überlagerte sogar die Schmerzen, die ihn wie Schockwellen durchpulsten. Dankbar nahm er die Dunkelheit an, die sich über ihn senkte. Und ihn von seinem Martyrium erlöste.
War das… der Tod…?
***
Die Kiva platzte fast aus den Nähten.
Selten war der Gemeinschaftsraum der Konoi dermaßen überfüllt gewesen. Und Anakon hatte nicht einmal rufen müssen. Von Mund zu Mund, von Ohr zu Ohr war die Kunde vom Auftauchen des Fremden geeilt. Des Mannes, der dem Wort »fremd« eine vollkommen neue Dimension verlieh.
Es brauchte nur ein paar Gesten seitens des Schamanen, um das Stimmengewirr zum Erliegen und alle Versammelten zum Schweigen zu bringen. Es war seine Körpersprache, und es war sein Blick, mit denen er die Aufmerksamkeit aller auf sich zog. Selbst etwas so Simples wie sein Atemgeräusch, so schien es, sandte versteckte Botschaften an die Anwesenden, die den Mittelpunkt des Raumes umstanden. Den Mittelpunkt, den nicht nur Anakon und seine Tochter Thekona bildeten, sondern auch ein Geflecht aus Ästen der Steinkiefer und biegsamen Wacholderzweigen. Es diente als kniehohe Unterlage für den Mann, den Thekonas Falke entdeckt hatte. Durch ihn hatte die Tochter des Schamanen ihn gefunden und ihren Vater verständigen können. Eine Handvoll Männer war sofort zur Fundstelle aufgebrochen und hatte den Bewusstlosen zur Siedlung getragen.
Er atmete flach, und einmal hatte sein Herzschlag ganz ausgesetzt – bis Anakons Zauber ihn dazu brachten, das Blut aufs Neue durch die Adern zu pumpen.
Aber selbst den Kräften des Schamanen waren Grenzen gesetzt, und er hatte sich nicht gescheut, dies die anderen wissen zu lassen.
»Er ist ein Santoran – ein Zeichen«, hatte er sich an die Konoi gewandt. »Ein Bote, dessen Wert wir bislang noch nicht einmal erahnen können. Denn nur wenn es uns gelingt, ihn dem Tod zu entreißen, werden wir vielleicht teilhaben dürfen am Schatz seines Wissens. Ihr wisst, wovon ich spreche. Unsere Überlieferungen sind voll von den Mythen, die die Tore betreffen. Dieser Fremde – seht ihn euch an, seht nur, wie er gekleidet ist –, er kam aus dem Nichts. Wir suchen seit Generationen nach den verborgenen Stellen, die wie Türen sind und die doch kein Auge zu sehen vermag. Schon mein Vater und dessen Vater wussten von ihnen. Aber bislang war alle Suche vergebens, wenngleich wir spürten, dass wir ihnen hier oben auf dem Tafelberg, wo wir uns niederließen, nahe sind. Vielleicht wird nach all der Zeit unser Warten nun belohnt. Es liegt an uns, es herauszufinden. Dazu muss er leben, müssen seine Wunden heilen. Helft mir.«
Sie wussten, was er von ihnen erwartete. Gebannt hingen sie an seinen Lippen. Niemand wagte es, das Wort zu erheben. Aber ihre Gesichter verrieten ihre Gedanken, die Fragen, die ihnen auf der Seele brannten: War dieser Fremde mit einem Donnerschlag, der beinahe die Pueblos zerschmettert hätte, wirklich von einer anderen Welt zu ihnen gekommen? Und wenn dem so war, konnten durch dieselbe Tür, durch die er zu ihnen gekommen war, auch sie… in seine Welt gelangen?
***
Thekona stand abseits. Der Schamane bildete das Zentrum, nicht sie. Sie war nur seine Tochter, und selbst das… war nicht die volle Wahrheit.
Innerlich seufzend entfaltete sie ihre Kräfte und sammelte damit den Geist der in die Kiva gekommenen Konoi. Ihr Vater hatte zu singen begonnen, und seine monotone Stimme erfüllte den Raum, erzeugte Resonanz in den Männern und Frauen des Stammes und entlockte ihnen an Vitalkraft, was sie selbst entbehren konnten, entlockte sie ihnen und leitete sie mit seinem rituellen
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