241 - Splitterzeit
Gesang in den Fremden, der sich schwerste Verletzungen zugezogen hatte. Als wäre er aus einem der hoch liegenden Pueblos hinab auf den felsigen Grund gestürzt und hätte sich dabei sämtliche Knochen im Leib gebrochen. Nur dass sich dort, wo Thekona ihn gefunden hatte, überhaupt keine Erhebung befand, von der er hätte fallen können…
Was das anging, war sie überzeugt, dass ihr Vater recht hatte: Der Fremde war ein Mysterium, das es wert war, aufgedeckt zu werden. Aber dazu brauchte es die Unterstützung eben dieses Fremden. Nur wenn sie es schafften, ihn den Klauen des Todes zu entreißen, konnten sie hoffen, das Rätsel um seine Existenz zu lösen.
Aufmerksam begleitete sie das Tun des Schamanen, Für jeden anderen Angehörigen des Stammes sah es aus, als würde Anakon das Ritual leiten und die Kräfte, die er den Männern und Frauen entlockte, in die richtigen Bahnen leiten, um sie zur Heilung des Schwerverletzten heranzuziehen.
Die nur Thekona bekannte Wahrheit jedoch war, dass sie der Schlüssel zum Gelingen dieses kräftezehrenden Prozesses war. Ihr Geist überstrahlte das, was selbst Anakon durch sein uraltes überliefertes Schamanenwissen zu bewegen meinte.
Ihr Vater war ein wunderbarer Mann – aber an dieser Herausforderung hätte er scheitern müssen.
Nein, dachte Thekona, hier bedarf es einer Gabe, die nur ich in mir trage. Aber ich bin bereit, sie in die Waagschale zu werfen. Der Fremde ist es wert …
Doch die Anstrengung zehrte fürchterlich an ihr. Wie ausgehöhlt kam sie sich schon bald vor. Als würde eine imaginäre Klinge sie innerlich ausweiden. Alles um sie herum versank allmählich hinter Nebeln, die kein anderer Konoi wahrnahm, obwohl auch sie bis ans Äußerste beansprucht wurden. Für die Dauer des Rituals floss ihre Lebenskraft hundertmal schneller aus ihnen heraus wie im Alltag selbst bei beschwerlichster Feldarbeit.
Doch sie hielten stand, weil sie Anakon, ihrem Schamanen, vertrauten. Er hatte sie auch in dunklen Stunden niemals alleine gelassen, war ihnen stets Vorbild gewesen. Ein Schamane war ein Schamane – sein Wort galt in der ansonsten angenehm hierarchiefreien Welt der Konoi.
Die Nebel wallten dichter. Thekona hatte Mühe, bei Bewusstsein zu bleiben. Aber sie spürte, wie die Kräfte, die sie bündelte, allmählich Wirkung zeigten, sich entfalteten.
Der Fremde schien von alledem nichts mitzubekommen. Er lag nur still da, während in seinen Körper Bewegung kam, seine Selbstheilungskräfte über alles Maß hinaus angeregt wurden. Unter der Haut, in seinem Fleisch, begannen sich gebrochene und verschobene Rippen, Schenkel- und Armknochen sowie Wirbel um genau jene Nuancen zu verschieben und auszurichten, die es brauchte, um die Brüche perfekt zusammenwachsen zu lassen.
Nie zuvor hatte Thekona so nachhaltig auf den Organismus eines Lebewesens Einfluss genommen.
Irgendwann schlossen die Nebel sie vollkommen ein und isolierten sie vom Rest der Gemeinschaft.
Irgendwann driftete ihr Bewusstsein in jene Gefilde ab, in denen auch der Geist des Fremden dahin siechte.
Aber sie begegnete ihm nicht. Ein letzter Schutzreflex bewahrte sie davor, sich ihm in diesem angreifbaren Zustand stellen zu müssen. In dieser Stunde zählte nur die »Reparatur« seines Körpers.
Doch als Thekonas Geist schließlich zugedeckt und erstickt wurde von den Nebeln der Erschöpfung, war immer noch unklar, ob sie ihr Ziel erreicht hatte.
Ihr letzter Gedanke, bevor sie vor der Ohnmacht, in die sie glitt, kapitulierte, galt dem Fremden.
Er ist der Schlüssel, den ich schon so lange gesucht habe. Wenn er stirbt, wird mir der Weg verwehrt bleiben…
***
Die Hand war voller Sorge und die Stimme voller Selbstvorwurf.
»Verzeih. Verzeih, dass ich dir so viel stahl. Ich wollte nicht –«
Das Blinzeln ihrer Augen brachte Anakon zum Verstummen. Erleichtert blickte er auf seine Tochter herab.
Er hatte charismatische Züge wie kein zweiter Konoi. Jede einzelne Furche seiner Gesichtslandschaft erzählte eine Geschichte. Er hatte Thekona erst in hohem Alter gezeugt. Ihre leibliche Mutter war bei der Geburt gestorben – Manitu, so glaubten die Konoi, hatte es so gewollt.
»Kein Grund zur Sorge, Vater«, antwortete sie. »Es geht mir… gut.«
»Du wurdest ohnmächtig. Wir merkten es erst, als –«
»Mach dir keine Gedanken. Ich habe wohl zu viel geben wollen. Ich vermag mir meine Kräfte noch nicht so klug einzuteilen, wie ich es gerne wollte.« Die Lüge kam ihr glatt von den Lippen.
Anakon
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