241 - Splitterzeit
wirkte immer noch beunruhigt. Er kniete neben ihr und trug andere Kleidung als während der Zeremonie.
»Wie lange habe ich geschlafen?«, fragte Thekona.
»Einen Tag und eine Nacht – und noch ein paar Stunden mehr. Draußen steht die Sonne im Zenit.«
»Hat sich jemand um Malko gekümmert?«
»Ich. Du hast ihn von mir, also bin ich ihm verpflichtet.«
»Ohne dich würde er gar nicht mehr leben, Vater. Ich werde den Tag nie vergessen, an dem du ihn mit nach Hause brachtest. Er konnte nicht einmal aus eigener Kraft fliegen. Er lag als letzter noch lebender Falke in einem Nest mit drei anderen. Seiner Mutter muss etwas zugestoßen sein…«
Er lächelte sanft.
Sie schloss kurz die Augen und lauschte. Nach einiger Zeit hörte sie die Geräusche und fernen Stimmen, die für den Wohnkomplex typisch waren.
»Kein neues Beben?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Die Geister sind uns gnädig.«
»Du meinst den Geist.« Mit einem Mal war ihre Erinnerung wieder komplett. »Wie geht es ihm?«
»Dem Fremden? Er ist über den Berg.«
»Hat er schon gesprochen?«
»Nein. Er schläft noch immer. Ich bespreche seinen Leib mehrmals am Tag, doch bislang ließ sein Geist sich nicht erwecken.«
Sie richtete sich auf. »Ich will zu ihm.«
»Das hat keine Eile.« Der Schamane legte seine Hand auf die Schulter seiner Tochter. »Du bist immer noch schwach. Ich habe dir einen Trank zubereitet. Hier…« Er zeigte neben Thekona, und erst jetzt bemerkte sie den süßlichen Geruch, der aus dem Tongefäß aufstieg.
»Was ist das?«
»Säfte aus dir«, sagte Anakon warmherzig. »Ich fing sie auf, während du schliefst. Sie sind wertvoll, wie du weißt. Zusammen mit ein paar anderen Ingredienzien werden sie dich rasch wieder auf die Beine bringen.«
Sie lächelte dankbar und hob den Tonbecher an ihre Lippen. Nachdem sie getrunken hatte, kam sie noch einmal auf den Fremden zurück. »Ein Krafttrank wie dieser würde auch dem zerbrochenen Mann gut tun.«
Der Schamane nickte. »Ich weiß. Er steht bereit. Sobald er aufwacht…«
***
Matthew Drax kam zu sich. Eine alte Frau war bei ihm. Sie trug ein Kleid aus grobem gefärbten Leinen und darüber noch einen Wollumhang. Ihre Augen wirkten wässrig und ausdruckslos, ihr Gesicht schartig wie ein Stück Holz. Die Haut war ledrig, die Gestalt insgesamt schmächtig und wie ausgedörrt. Im ersten Moment war Matt überrascht, dass diese Greisin überhaupt noch lebte; fast mumifiziert kam sie ihm vor.
Er überlegte, ob sie es gewesen war, die ihre Hand auf ihn gelegt und die er am äußersten Rand seines Blickfelds wahrgenommen hatte. Nach dem höllischen Sturz, der ihm jede Gräte im Leib zertrümmert zu haben schien.
Gelähmt!, schoss die Erinnerung brutal in sein Bewusstsein. Ich bin –
Er hob die Hand. Es schmerzte, aber nicht mehr so wie zuletzt, und dieser Schmerz erinnerte eher daran, dass Muskulatur überbeansprucht worden war. An Muskelkater. Überhaupt: Sein Körper gehorchte ihm wieder!
Doch kein Totalschaden?
Plötzlich war der alte Galgenhumor zurück. Fast euphorisch testete er unter den ausdruckslosen Blicken der alten Frau auch seine übrigen Extremitäten.
Sie gehorchten ihm tadellos, wenngleich auch ihnen jenes dumpfe Ziehen innewohnte, das er als Symptom der Übersäuerung von Muskulatur kannte.
Als Matt seinen Oberkörper aufrichtete, bückte sich die Greisin und hob ein Tongefäß vom Boden auf, das sie ihm reichte. »Gon torek.«
»Ich soll das trinken?«, fragte Matt in seiner eigenen Sprache. Das von ihr benutzte Idiom war ihm nicht einmal in Ansätzen geläufig.
»Gon torek!«, wiederholte sie, diesmal deutlich ungeduldiger.
Matt nahm den Tonbecher zögernd entgegen. Der Inhalt war erkaltet; darauf deutete zumindest die Kühle des Gefäßes hin. Beim Entgegennehmen streifte er die ledrige Haut der Alten. Es fühlte sich an, als berühre er die Rinde eines knorrigen Baumes.
Der Geruch der Flüssigkeit, ihre gelbliche Farbe und darin herum schwimmende Kräuter weckten ein Würgegefühl in Matt. Angewidert stellte er das Gefäß neben sich ab, was der alten Frau gar nicht gefiel. Sie verfiel in ein wüstes Gezeter. Er war nicht unfroh, auch davon nicht das Geringste zu verstehen. Allerdings versuchte er die Greisin mit Gesten und Mimik zu beruhigen. Er wollte nicht undankbar erscheinen, aber er wollte auch um keinen Preis der Welt einen Schluck dieses unsäglichen Gebräus probieren.
»Wasser«, sagte er immer wieder. »Ich wäre dankbar für
Weitere Kostenlose Bücher