248 - Entfesselte Gewalten
Wurzelgeflecht des Urwaldriesen, drehte sich um sich selbst, äugte in Wald und Dämmerung und knurrte böse. Über den Wipfeln zog bereits der neue Tag herauf.
Rulfan packte seinen Säbel und sprang auf. Chira bellte sich heiser, Rascheln erfüllte das Unterholz jenseits der kleinen Lichtung.
Angreifer! Sie schienen von allen Seiten zu kommen. Es dauerte ein paar Atemzüge, bis die ersten auf die Lichtung sprangen. Wütend knurrend fuhr ihnen Chira in die Beine.
Unheimliche Gestalten waren das, schwarz und grau und hünenhaft und über und über von tentakelartigen Auswüchsen bedeckt. Der Mann aus Salisbury musste an die Pilzwesen denken, denen er und Matt anderthalb Jahre zuvor in der Gegend des Kilimandscharo begegnet waren. Und wie sie brüllten! Wie wilde, halbverhungerte Tiere.
Waren es sieben, zehn oder zwölf? Schwer zu sagen im Kampfgetümmel. Sie griffen mit Stangen, Knüppeln und Steinen an, und sie kämpften wie Kreaturen, die keine Kompromisse kannten. Mindestens vier sah Rulfan auf Zarr losgehen. Zwei stießen die brennenden Scheite des Feuers auseinander, kippten Körbe voll feuchtem Waldboden in die Glut und versuchten sie auszutreten. Drei droschen auf ihn selbst ein. Rulfan sah Fangnetze durch das erste Licht des neuen Morgens fliegen…
***
Einige Tage zuvor, über dem Atlantik
Die Sonne ging auf. Eine Wasserwüste dehnte sich unter ihnen aus. Nirgendwo war Land in Sicht. Der Gleiter flog in zwanzig Metern Höhe über die Wellentäler hinweg. Vor fast drei Wochen waren sie aus Waashton aufgebrochen. Nicht einmal die Ortung des Gleiters erfasste schon die afrikanische Küste.
Aruula hing neben Matt Drax im Sitz des Copiloten und hatte die Augen geschlossen. Sie hatten kaum ein Wort gewechselt, seit sie von dem kleinen Felsatoll gestartet waren, auf dem sie übernachtet hatten. Möglicherweise schlief sie wieder. Oder dachte sie nach?
Stoff genug hatte sie ja. Vor allem eines lag ihnen beiden schwer auf der Seele: ihr gemeinsamer Sohn. Die ersten Tage über dem Atlantik hatten sie über nichts anderes gesprochen als über ihn, über Daa'tan. Schließlich war er der Anlass, in den alten Gleiter zu steigen, mit dem Arthur Crow – möge ihn das Eis verschlingen! – in die Antarktis gekommen war, und die weite und gefährliche Reise nach Afrika zu wagen.
Daa'tan. Schon der Gedanke an ihn kam Matt wie die Erinnerung an einen Albtraum vor. Es war gut gewesen, weit weg von ihm zu sein, weiß Gott! Jetzt verringerte sich die Distanz zwischen ihm und seinem Sohn mit jeder Sekunde. Jedenfalls die räumliche Distanz. Die menschliche entsprach etwa der zwischen Erde und Pluto.
Daa'tan also. Er befand sich in einem Hochsicherheitskerker auf der Ebene unter der Wolkenstadt Wimereux-à-l'Hauteur. Er und sein daa'murischer Freund Grao'sil'aana waren Gefangene, seit Matt und Aruula Afra verlassen hatten, um die Hydriten Gilam'esh und Nefertari in ihre vergessene Stadt Gilam'esh'gad zu begleiten, die am Grunde des Marianengrabens lag. Damals hatte Matthew dem Kaiser versprochen, zurückzukehren und eine Lösung des Problems zu finden. Nur deshalb hatte Pilatre de Rozier die beiden Verbrecher nicht hingerichtet, sondern seinen Sohn Victorius mit dem Bau des Kerkers betraut, der einen Pflanzenmagier und einen Gestaltwandler halten sollte. Einen Bau, in dem vor allem Daa'tan mit seiner verhängnisvollen Gabe, Pflanzen zum Wuchern zu bringen und für seine Zwecke einzuspannen, keinen Schaden anrichten konnte.
Himmel, wie viele Schwierigkeiten hatte der Junge ihnen schon gemacht! Mit Grausen dachte der Mann aus der Vergangenheit an seinen Sohn: In Zentralaustralien waren sie sich gegenüber gestanden, am Uluru. Daa'tan hatte ihn, seinen eigenen Vater, in ein tödliches Dornengestrüpp eingesponnen. Er hätte ihn verbluten, verhungern und verdursten lassen, gnadenlos! Wenn Aruula nicht zugestimmt hätte, ihren Sohn zu begleiten, als er sich mit Victorius' Roziere auf den Weg nach Afra machte…
Matt Drax seufzte tief. Die Ortung des Gleiters schlug an. Sofort war er hellwach. Sein Blick glitt über die Kleinmonitore. Die Instrumente hatten ein Objekt in knapp vierzig Seemeilen Entfernung ausgemacht. Matt Drax spähte durch die Frontscheibe und auf den Monitor, der die Aufnahmen der Außenkameras übertrug. Nichts. Das Objekt lag in Flugrichtung und der ehemalige Commander der US Air Force spielte mit dem Gedanken, ihm auszuweichen. Doch seine Geschwindigkeit war so niedrig, dass es sich eigentlich nur um ein
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