25 - Ardistan und Dschinnistan II
Stellung empor, und zu gleicher Zeit sprang sein Pferd vom Boden auf. Er schaute zu Merhameh hinauf, nickte ihr dankend zu und fragte:
„Hat sich die himmlische Barmherzigkeit in irdische Form gekleidet? Oder ist hier Merhameh der Name eines wirklichen Menschenkindes?“
„Ich bin wirklich!“ antwortete sie. „Mein Vater hat mich so genannt.“
„Dein Vater? Wer ist er?“
„Er heißt Abd el Fadl.“
Da trat der Scheik mit dem Ausdruck der Überraschung noch einige Schritte zurück und fragte:
„Etwa gar Abd el Fadl, der Fürst von Halihm, der das berühmte Gelübde tat?“
„Derselbe!“ nickte sie.
„Ist er hier?“
„Ja.“
„Darf ich ihn sprechen?“
„Nein. Sein Name sagt, was er ist und was er will. Er kennt keine andere Herrscherin als nur die Güte allein, der es verboten ist, mit Menschen zu verkehren, die rauben und morden und Blut vergießen wollen. Es gibt nur zwei, die mit euch reden können, nämlich die Strenge und die Barmherzigkeit.“
„Die Barmherzigkeit bist du. Und wer ist die Strenge? Wer gebietet hier? Warum hält man uns auf? Man scheint das Felsenloch besetzt zu haben und uns nicht weiterlassen zu wollen. Wer ist es, der das tut?“
„Das bin ich!“ erklang es neben Merhameh.
Der Dschirbani war von seiner hohen Stelle herabgestiegen und neben Merhameh getreten. Er glich in seiner edlen Haltung, seiner vornehmen Art, sich zu bewegen und seinem ledernen Gewand einem Winnetou in Riesengestalt, und mit der herabwallenden Haarmähne einem noch nicht ganz gezähmten Löwen.
„Du?“ fragte der Scheik der Tschoban. „Ich kenne dich nicht; ich habe dich noch nie gesehen.“
Der Gefragte brauchte nicht zu antworten. Es erhob sich unter seinen Leuten eine Stimme:
„Der Dschirbani! Der Räudige, der Verrückte!“
Und eine andere Stimme fügt hinzu:
„Der, wenn er von den Ussul eingesperrt wurde, immer herüber zu uns floh, um hinauf nach Dschinnistan zu laufen. Wir aber ließen ihn nicht durch!“
„Der Dschirbani! Der Verrückte! Der Verachtete! Der Räudige!“ rief ein dritter und ein vierter.
„Der Verachtete! Der Räudige! Der Verrückte!“ schrien ihnen viele andere nach.
„Ist das wahr?“ fragte der Scheik zu ihm hinauf.
„Daß man mich den Dschirbani nennt, ist wahr“, antwortete der Geschmähte ruhig. „Ob ich verrückt oder räudig bin, das wirst du sehr bald selbst beurteilen können. Dein Sohn, der falsche Ilkewlad, der nicht der Erstgeborene ist, fiel in unsere Hände. Er plauderte eure Pläne aus. Da zogen wir euch entgegen, um euch eine Falle zu stellen. Wir sind weiter über tausend Mann und haben da unten das Felsenloch besetzt, um euch nicht hindurchzulassen –“
„Eine Falle?“ unterbrach ihn der Scheik. „Wir scheinen allerdings da unten nicht weiterzukönnen; wer aber hindert uns, dahin zurückzukehren, woher wir gekommen sind?“
„Der Hunger, der Durst und das Feuer. Schau hin!“
Er deutete nach dem Felsentor. Die wenigen Minuten hatten genügt, soviel Holz, wie nötig, herbeizuschaffen und in Brand zu stecken. Weil das Feuer draußen brannte, sah man es nicht; aber der Wind blies den Rauch herein, verhinderte ihn, emporzusteigen, und zwang ihn, wie eine sich tief am Boden windende Schlange dem Ufer des Flusses zu folgen. Der Scheik stieß einen Schreckensruf aus.
„Auch dein anderer Sohn, der wirkliche Erstgeborene, geriet in unsere Hände“, fuhr der Dschirbani fort. „Wir haben ihn gestern noch vor Abend ergriffen, als –“
„Mein Sohn Sadik?“ unterbrach ihn der Scheik.
„Ja.“
„Das ist nicht wahr! Das ist Lüge!“
„Gut! Nimm es für Lüge!“
„Er kann nicht hier sein, ich glaube es nicht. Er ist daheim!“
„Ich wiederhole nur: Nimm es als Lüge! Und sei auch stolz genug, mit mir, dem Lügner, nicht weiter zu verkehren!“
Er wandte sich ab und stieg langsamen Schrittes wieder hinauf nach seinem Platz. Auch Merhameh verließ die Platte und gesellte sich wieder zu uns. Ich fand das sehr richtig. Des Dschirbani Weise war ganz die rechte, um sich in Respekt zu setzen. Der Scheik rief noch mehrere Male nach ihnen herauf, bekam aber keine Antwort. Da beschied er eine Anzahl seiner Leute zu sich, in denen ich die Ältesten vermutete. Sie setzten sich in einem Kreis nieder, um mit ihm zu beraten. Eine solche Beratung der Stammesältesten wird bekanntlich Dschema genannt. Die jetzige fand grad vor unseren Augen statt. Es wurden Leute sowohl nach dem Felsentor wie auch nach dem Felsenloch gesandt,
Weitere Kostenlose Bücher