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25 Stunden

25 Stunden

Titel: 25 Stunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Benioff
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ihm überhaupt nichts anzusehen. Montys grüne Augen sind verschleiert wie die Augen eines Fisches, den man nicht würde kaufen wollen. Jakob hätte ihn gern gefragt, was er gerade vor sich sieht, was er sich vorstellt, ob Otisville oder Naturelle oder den Anfang dieser ganzen Misere. Aber Jakob fragt ihn nicht, er reibt sich bibbernd die Hände. Noch ein paar Stunden, und ich kann mich in mein warmes Bett legen, zwischen alte Flanellbettwäsche. Ich kann mir einen Tee kochen und mir, während ich ihn trinke, das Schneetreiben draußen anschauen. Der Unterricht morgen wird ausfallen. Ich kann ausschlafen, irgendwann am frühen Nachmittag aufwachen, mir die Zeichentrickfilme anschauen, die Katze anfeuern, dass sie sich die Maus endlich holt.
    »Steht eigentlich fest, dass die U-Bahn noch fährt?«, fragt Jakob schließlich. Monty antwortet nicht. Er ist nicht anwesend. Er befindet sich in einem Krankenhaus in der Seventh Avenue in Bay Ridge, im Jahre 1977, und besucht seine Mutter.
    Sie hatte allmählich angefangen, anders auszusehen, wie jemand Fremdes, wie etwas Fremdes, etwas Monströses, das vorgab, seine schöne Mutter zu sein. Er konnte diese neue Frau nicht leiden, er hasste sie; sie versuchte ihn auszutricksen, ihn glauben zu machen, dass sie seine richtige Mutter war, wo doch jeder sehen konnte, dass das nicht stimmte. Sie war eine Hochstaplerin. Wenn sie redete, hörte sich das überhaupt nicht nach seiner richtigen Mutter an, dieses raspelnde Flüstern, das kaum einen Satz lang reichte.
    Zu Hause hatte er ein Bild von den beiden Frauen gemalt, die eine mit lockigen Haaren, die andere kahl, und sein Vater hatte ihn gefragt, um wen es sich dabei handle. »Das ist Mommy«, hatte der Junge gesagt und auf die Frau mit den Locken gezeigt. Er drückte den Finger auf das Gesicht der kahlen Frau. »Das ist die Räubermommy.«
    Als sein Vater ihm sagte, dass sie beide sie besuchen gehen würden, schrie und weinte Monty, bis ihm sein Vater eine kräftige Ohrfeige versetzte. Monty hörte zu weinen auf. Die nächste halbe Stunde lang hasste er seinen Vater, aber als sie bei der Seventh Avenue ankamen, hielt er sich an seiner Hand fest. Monty hatte einen Feuerwehrhelm aus Plastik auf, so rot wie ein kandierter Apfel, mit einem Aufkleber an der Vorderseite, auf dem NEW YORK CITY FIRE DEPARTMENT stand. Sie stiegen in den Fahrstuhl, und eine alte Frau im Bademantel, die sich auf eine Gehhilfe stützte, lächelte Monty an und bat seinen Vater um Feuer.
    Als sie bei dem Zimmer ankamen, wollte Monty nicht hinein; er kniff die Augen zu, presste sich die Hände auf die Ohren und schüttelte wild den Kopf. »Monty«, sagte sein Vater und nahm ihm die Hände von den Ohren. »Bitte. Hilf mir.« So etwas hatte sein Vater noch nie zu ihm gesagt. Monty machte die Augen auf, nahm seinen Vater bei der Hand und folgte ihm in das Zimmer.
    Die Räubermommy sah ihn an und lächelte, sie streckte einen Arm aus und zog ihn dicht an sich heran. Er hatte Angst, aber sie zog ihn dicht an sich heran. Er wusste nicht, was passierte. Er wusste nur, dass es etwas Schlimmes war. Sie hielt seine Hand und sagte: »Hab keine Angst.«
    »Ich hab keine Angst«, sagte er.
    »Der steht dir gut, dein Helm«, sagte sie.
    »Ich werd Feuerwehrmann«, sagte er, und sie nickte.
    »Ja, bestimmt.« Sie schloss die Augen, und dann lief ihr ein Zittern den ganzen Körper hinab. Und noch eins und noch eins. Ihre Hand ließ ihn los und krampfte sich in das Bettzeug. Mr. Brogan nahm seinen Sohn bei den Schultern und führte ihn zur Tür. Als er das Zimmer verließ, hörte Monty, wie seine Mutter mit großer Mühe sagte: »Du wirst ein toller Feuerwehrmann werden, Montgomery.«
    Er sah sich nicht um. Er ließ seinen Vater dort drin, ging den Krankenhausflur hinunter. Seine Basketballschuhe quietschten auf dem polierten Boden. An der geöffneten Tür eines anderen Zimmers blieb er stehen. In dem Bett lag ein alter Mann mit Schläuchen in der Nase, im Arm. Aus einem Radio auf dem Nachttisch tönte eine Opemarie. Der alte Mann sah Monty in der Tür stehen und winkte ihn mit dem Finger näher.
    »Figlio mio«, sagte der alte Mann. »Dov't il fuoco?«
    Monty lief davon. Er lief so schnell, dass ihm der Feuerwehrhelm vom Kopf fiel, aber er hielt nicht an, er lief zum Ende des Flures, drei Treppen hinunter, durch die Krankenhaustüren nach draußen, auf die Seventh Avenue, zur 81st Street. Er hielt erst in seinem eigenen Block wieder an. Vor seinem Haus hockte er sich hin und

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