2500 Kilometer zu Fuß durch Europa
Pèlerinage de St.-Jacques-de- Compostelle » ( ,Hier beginnt
die ,Via Podiensis ’, ein Hauptpilgerweg zum Heiligen
Jakobus von Compostela’), belehrt uns eine Eisentafel am Ortsausgang von Le Puy . Von nun an werde ich den berühmten Wanderweg
entlanggehen, der die beiden Wallfahrtsorte Le Puy und Santiago verbindet, seit im elften Jahrhundert der Bischof Gothescalk als erster christlicher Würdenträger die 1.600
Kilometer zurückgelegt hat. Der Sommer zeigt sich freigiebig und gibt uns eine
Extrarunde Sonne aus, die die Landschaft mit einem intensiven Licht bemalt, ein
Lächeln auf unsere Lippen trägt und dafür sorgt, dass es heiß ist. Wirklich
heiß. Es ist so heiß, dass der Asphalt auf den Straßen schmilzt und meine
Wanderstöcke Löcher im Boden hinterlassen. Entsprechend verschwitzt treffen wir
zwei Stunden nach unserem Aufbruch von Le Puy auf
Floriane, ein junges Mädchen mit tiefschwarzen Haaren und großen,
vertrauensvollen Augen, das in einem kleinen Holzstand steht und
vorbeikommenden Pilgern das schenkt, was sie angesichts der heutigen Hitze am
nötigsten brauchen: Wasser. Sie ist eine freiwillige Helferin der Jakobswegwanderer
und träumt davon, eines Tages selbst aufzubrechen, seit sie einen Pilger erlebt
hat, der sich auf seinem Rückweg von Santiago an sie erinnert hat. Seitdem hat
sie mehrmals erfahren, dass junge Leute als Kilometerfresser, als
Adrenalinjunkies loslaufen, getrieben von dem Wunsch, am Abend 50 Kilometer
weiter südwestlich ihr Lager aufzuschlagen, und unterwegs merken sie, dass es
gar nicht darauf ankommt, besser als die anderen zu sein.
Der Wettlauf um Anerkennung weicht nach
und nach einer inneren Sicherheit. „Ils reviennent sages “, sie kehren weise zurück, sagt Floriane.
Sie hat Recht. Die Gründe für
Jakobspilger, sich auf den Weg zu machen, sind so vielfältig wie die Menschen
selbst. Viele sehen den Weg als sportliche Herausforderung andere wollen ein
paar Wochen mit Freunden verbringen. Manche gehen spontan los, weil ihr Leben
eine unerwartete Wendung genommen hat, wieder andere planen den Weg wochenlang
im Voraus. Einige tauschen ihren Alltag gegen einige Wochen Wanderschaft ein,
nachdem sie einen Jakobsweg-Artikel in der Zeitung oder den Bestseller von
Paulo Coelho gelesen haben, viele treibt die Abenteuerlust Richtung Santiago;
nur eine Minderheit ist vorrangig aus religiöser Überzeugung unterwegs. Beinahe
alle aber verändern sich auf dem Weg. Ihr Handeln orientiert sich nach und nach
nicht mehr daran, was andere von ihnen erwarten, erhoffen oder befürchten,
sondern an den Stimmen in ihrem Inneren, wodurch sie an Stärke und an
Unabhängigkeit gewinnen. Die schönsten Momente ergeben sich oft gerade dann,
wenn man zu Umwegen gezwungen ist und sich Zeit nehmen muss, um mit den
Menschen zu sprechen. Der Jakobsweg flüstert Wahrheiten, teilt Erfahrungen mit,
wenn man genau hinhört, und vielleicht besteht die Weisheit darin, den Weg in
jedem Moment abbrechen zu können, nachdem man diesen inneren Wechsel erlebt
hat, ohne sich darüber zu ärgern, nicht nach Santiago gelangt zu sein.
Pierre
Wir verabschieden uns von Floriane und setzen unseren Weg nachdenklich fort, als in
einem Waldstück ein Wanderer zu uns stößt, der uns im Verlauf des Weges
nachhaltig beeinflussen und beeindrucken wird. Pierre, ein Musiklehrer aus Annecy an der französisch-schweizerischen Grenze, vereint
auf den ersten Blick die Eigenschaften, die ich einem typischen Franzosen
unterstelle. Er ist feinfühlig, redegewandt und verfügt über einen subtilen
Humor; er erkennt die Geschmacksnuancen der verschiedensten Weinsorten, verfügt
über eine gute Portion gegenwartsbezogenem savoir vivre und hat neben seiner hedonistischen auch eine
künstlerische Ader, die sich in seiner poetischen Ausdrucksweise, seiner
Kennerschaft der Werke vieler Autoren und seiner Passion für Musik
manifestiert. Pierre ist der Bewegungstyp Flaneur. Mit leichten, kleinen
Schritten geht er vorwärts und hebt dabei die Füße kaum vom Boden, was ihm vor
allem bei den Aufstiegen zugute kommt , mit denen Saquina und ich deutlich mehr zu kämpfen haben als er.
Durch seine effizienten Bewegungen erweckt er zuweilen den Anschein, als würde
er gemütlich an Schaufenstern vorbeibummeln, oder als würde er von einer dieser
waagrechten Rolltreppen vorwärts geschoben, die man auf großen Flughäfen
vorfindet. Zu dritt gehen wir heute weiter bis Saugues ,
wo wir spät abends ankommen und nach
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