2500 Kilometer zu Fuß durch Europa
Pyrenäen
emporhecheln, weil ich ihn nicht mehr loswerde, aber es sollte mal wieder
anders kommen. Als Kleber nämlich gerade beschließt, eine Herde grasender
Pferde anzufallen, erkenne ich die Gestalt eines Wanderers, der sich beim
Näherkommen als Saquina entpuppt. So langsam bin ich
nicht mehr erstaunt, dass wir uns immer wieder über den Weg laufen, mit der
Zeit gewöhnt man sich an das Unerwartete. Kleber und ich sind von dem
Neuankömmling begeistert, doch nach einer dreiviertel Stunde findet Saquina in dem zotteligen Fell die Telefonnummer des
Besitzers, der seinen untreuen Wachhund im nächsten Dorf abholen kommt. Traurig
blickt Kleber uns nach, als wir die letzten Häuser des Dorfes in Richtung Süden
hinter uns lassen. Ich denke aber, dass Spanien letztendlich nichts für ihn
gewesen wäre: zu wenig Kühe und zu heiß für ein zotteliges Untier.
„ C’est un virus !“
Vor uns erstreckt sich die bizarre
Vulkanlandschaft des Velay , einer
erdgeschichtlich betrachtet sehr jungen Vulkankegelkette, deren sanft gerundete
Kuppen, französisch Dome genannt, bis zu 1.500 Meter in den Himmel
ragen. Anders ausgedrückt ist das Velay Teil einer
kontinentalen Riftzone , wo durch geoelektronische und
seismische Testverfahren (Aubert & Camus 1974) die Existenz einer
positiven Wärmeanomalie nachgewiesen wurde, die sich bis in etwa 270 Kilometer
Tiefe erstreckt ( Granet et al 1995). Aus diesem Grund
ist die Gegend, in der wir uns befinden, geprägt von Domen phonolithischer bis trachytischer Zusammensetzung und stellenweise
sogar von rhyolithischen Eruptionen, wie u.a. Bardintzeff (1999) betont; und der geothermische Gradient
ist nicht zuletzt aufgrund des tertiären und quartären Hot-Spot-Vulkanismus mit
1°C pro 15 Meter doppelt so hoch wie in den übrigen Vulkan-Gebieten
Frankreichs. Konkret bedeutet dies, dass Saquina und
ich ständig bergauf gehen müssen und dabei ganz schön ins Schwitzen kommen,
dass wir uns an erstaunten Ausrufen überbieten, weil sich immer neue, vor Lava
schwarze Gesteinswände abrupt vor uns erheben, und dass wir schließlich
gezwungen sein werden, in Le Puy neue Filme für
unsere Fotoapparate zu kaufen, weil wir unsere Begeisterung zumeist mit dem
hilflosen Versuch kombinieren, das Gesehene auf Papier zu bannen und somit zu immortalisieren .
Je höher wir steigen, desto
offensichtlicher sind die Zeugnisse der Zivilisation, auf die wir stoßen, den
klimatischen Bedingungen angepasst, die in einem Mittelgebirge herrschen. Die
Häuser sind aus massivem Gestein gebaut und haben vor allem in den oberen
Stockwerken viel Platz. Ein Stall im Erdgeschoss diente dabei früher als
natürliche Heizung: Die Körperwärme des Viehs sammelte sich direkt unter der
Decke. Unerwartet Verstorbene pflegte man im Winter auf den Dächern festzubinden,
da der gefrorene Boden Begräbnisse nicht zuließ. Oben auf den Dächern wurden
die Leichname im Schnee konserviert und waren vor Raubtieren geschützt. In
einem solchen Haus finden Saquina und ich heute auf
über 1.200 Metern Höhe Zuflucht vor den Westwinden und treffen auf ein
Pilgerpärchen, das mit zwei Eseln namens ,Blanche’ und
,Florette’ den Jakobsweg von der spanischen Grenze bis Saint-Etienne den
Muscheln entgegengesetzt entlanggeht. Die beiden sind uns auf Anhieb
sympathisch: ein eingespieltes, routiniertes Ehepaar Ende Vierzig, wobei er
ganz den erfahrenen Extremwanderer herauskehrt und uns fachkundig sein
Schweizer Springmesser zeigt, während sie nach außen hin zurückhaltender ist,
ihren Mann lächelnd seine Show abziehen lässt und nur manchmal eine spitze
Bemerkung abschießt, die klar macht, wer von den beiden letztlich die Hosen
anhat. Beim gemeinsamen Abendessen outen sich die beiden als echte Naturfreaks,
die seit Jahren immer wieder auf den Jakobswegen unterwegs sind. „ C’est un virus !“,
es ist ein Virus, eine Droge, sagen sie.
Ein Gespräch mit grand-père , dem Großvater
Tags darauf trennen sich unsere Wege:
Die beiden Naturliebhaber ziehen samt Eseln weiter nach Norden, während Saquina und ich beginnen, in das sechshundert Meter tiefer
gelegene Le Puy hinabzusteigen. Das Klima wird
spürbar milder; das Ausmaß der Hilfsbereitschaft in den verstreut auf dem Weg
liegenden Dörfern übersteigt alle Grenzen. Man schenkt uns Obst und Wasser,
lädt uns zum Essen ein, wünscht uns Glück und erklärt uns die Funktionsweise
alter Holzöfen. Kurz vor Le Puy machen wir Rast in
dem Dörfchen St. Julien
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