2500 Kilometer zu Fuß durch Europa
Chapteuil und treffen
auf einen alten Mann (im Folgenden grand-père ,
Großvater, genannt), an dessen Lebensgeschichte wir nicht so schnell
vorbeikommen. Ich übersetze:
S: „Willst du dir wirklich ein Eis
kaufen? Ich dachte, du hättest gerade zwei davon gegessen.“
I: „Zwei erst? Ich halte mich eben heute
zurück. Außerdem komme ich aus einem kalten Land und muss mich innerlich gegen
die Hitze wappnen.“
[Auftritt grand-père (GP)]
GP: „Hier kommen nur selten so junge
Leute wie Sie beide vorbei. Wo kommen Sie denn her?“
S & I: [erzählen unsere
Geschichte, vgl. S. 7-45 in diesem Buch]
GP: „Früher wollte ich auch immer den
Jakobsweg entlang gehen. Ich hab sogar einen Artikel darüber verfasst, der in "Le monde veröffentlicht wurde.“
S:...?
I:...?
GP: „Ja, ich bin ganz schön
herumgekommen; auch in Deutschland war ich oft, junger Mann.“
S:...?
I:...?
GP: „Aber dann bin ich vom Journalismus
zu France Telecom gewechselt. Die habe ich hier in der Gegend groß
gemacht, das sag’ ich euch!“
S:...?
I: „Sag mal, warum duzt der uns denn
plötzlich? Darf ich das jetzt auch?“
S: „Keine Ahnung.“
I: „Ist das so eine Art Forrest Gump,
oder was?“
S: „Wer ist denn Forrest Gump?“
GP [zeigt, unergründlich lächelnd, auf
das Gebäude hinter uns]: „Das da gehört mir. Ist ne uralte Bar aus dem Jahr 1908. Vor zwanzig Jahren haben wir dichtgemacht, und
alles ist genau so geblieben wie am letzten
Öffnungstag. Das Haus ist eine Antiquität, eine Schatztruhe. Wollt ihr mal nen Blick rein werfen?“
S: „Also, eigentlich sind wir...“
I: „Na klar, gerne! So eine Gelegenheit
bekommt man nicht alle Tage.“
GP [schließt die Tür auf und schenkt
sich und mir einen Whiskey ein]: „ Saquina , darf ich
Ihnen auch einen Whiskey anbieten?“
S: [leise]: „Er scheint anzunehmen, dass
grundsätzlich alle Männer Alkohol mögen.“
GP [bekommt leuchtende Augen, was nicht
nur an den ersten drei Gläsern Whiskey liegt]: „Und dort hinten ist meine
Sammlung alter Telefone. Ich habe sie alle aufbewahrt; dreißig Jahre lang habe
ich für die Telekom gearbeitet.“ [erklärt uns die Funktionsweise alter
Telefone, was uns natürlich nicht die Bohne interessiert. Aber von der
Zärtlichkeit in seiner Stimme sind wir fasziniert; es ist, als würde er von
seinen Enkeln sprechen. Dann weist er auf ein vergilbtes Foto an der Wand.]
„Das ist meine Frau. Es ist das einzige Foto in diesem Raum, alle anderen habe
ich abgehängt. Vor einem Jahr und zweiundzwanzig Tagen ist sie gestorben,
Krebs. Ich denke jeden Tag an sie.“
S:...?
I:...?
GP [betrachtet das Foto mit unendlicher
Sanftheit]: „Ich möchte euch um einen Gefallen bitten. Bitte sprecht in
Santiago oder auf eurem Weg ein kleines Gebet für sie und für mich. Hier sind unsere
Vornamen, [schreibt sie auf einen Zettel, den er mir reicht] Würdet ihr das für
uns tun?“
S & I [blicken ihm verlegen ins
Gesicht]: „Wir versprechen es.“
Plötzlich hat das so locker begonnene
Gespräch eine ernste Wendung genommen. Wir bleiben nicht ungerührt von der
Lebensgeschichte des ,Großvaters’ , von seiner Haltung,
seiner trotz Rückschläge und Wechsel ungebrochenen Freundlichkeit und der über
den Tod hinausreichenden Liebe zu seiner Frau. Nachdenklich und schweigsam
machen wir uns auf den Weiterweg nach Le Puy .
Erst auf dem Hügel Montjoie ,
dem ,Berg der Freude’, der diesen pathetischen Namen trägt, weil man hier zum
ersten Mal die berühmte französische Pilgerstadt sieht, gewinnen unsere
gewohnte Lebenslust und unser Leichtsinn langsam wieder die Oberhand über das
nachdenkliche Schweigen. Auf dem Gipfelkreuz des Montjoie ist die alte lateinische Aufmunterung eingraviert, die uns in Frankreich
allerorten zugerufen wird: , Ultreia !’ bedeutet soviel wie ,weiter’, im doppelten Wortsinn.
In Spanien wird , Ultreia !’ zumeist abgelöst durch das Wort ‚ Animo !’, was am ehesten mit ,Mut’ oder ,Wille’ übersetzt werden kann, aber in erster
Linie eine Zustandsbeschreibung ist.
Le Puy
In Le Puy erleben wir erneut, dass die Ereignisse auf dem Jakobsweg nicht planbar sind,
und dass gerade darin der Reiz dieses Pilgerwegs besteht, weil die wirklich
schönen Dinge immer spontan und unangemeldet auftauchen. Auf dem Campingplatz
teilt uns der Eigentümer, ein junger, breitschultriger Holländer mit
hellblonden zerzausten Haaren und einem unerschrockenen Blick, zunächst mit,
dass wir ohne ein Zelt
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