2500 Kilometer zu Fuß durch Europa
Sanftmut
In gewisser Weise entspricht das Pilgern
auf dem Jakobsweg gelebtem Buddhismus. Indem man auf die tägliche Dosis Luxus
vernichtet, wird man innerlich unabhängig. Indem man seine Bedürfnisse versucht
zu kontrollieren, erfährt man mehr über ihre Beschaffenheit. Und erst indem man
aufhört, sich selbst im Weg zu stehen, indem man anfängt, sich selbst zu
begreifen, ist man offen für echtes Mitgefühl und diese leichte, fast schon
schwebende Sanftheit, die schon immer in uns gewesen ist, und die in dem
Lächeln und den Bewegungen buddhistischer Meister so rein und
selbstverständlich nach außen tritt.
Erst nachdem ich einige Wochen unterwegs
gewesen bin, empfinde ich zum Beispiel ein Stück Brot als das, was es wirklich
ist: ein Geschenk. Ich habe ja keine Ahnung gehabt, wie viele einzelne
Geschmacksnuancen in einem Stück frischen Bauernbrot enthalten sind: Es fängt
fast süßlich an, wenn die Mehlschicht auf der Brotrinde auf die
Geschmacksknospen der Zunge trifft, entfaltet dann einen herzhaft-würzigen
Geschmack im Mund und hinterlässt am Ende eine angenehm säuerliche Ahnung im
hinteren Teil des Gaumens. An ein solches Brot, belegt mit einer hausgemachten
Wurst oder einem frischen Landkäse , das alles in der
atemberaubenden Landschaft Südfrankreichs, in der einem ständig eine frische
Brise um die Nase streicht, die bereits die nahende Atlantikküste ankündigt,
kommt kein Vier-Sterne-Menü im teuersten Luxusrestaurant heran. Diese leichten,
fast schwebenden Momente sind es, die manchmal ein Gefühl tiefer Zufriedenheit
hervorrufen, verbunden mit der Einsicht, dass man in diesem Moment Teil von
etwas Größerem ist, dass man aufgehoben ist, und dass das Leben so ist wie es
sein muss, dass es weder gut noch schlecht, sondern einfach nur da ist. Und
dass wir es sind, die den Zugang dazu mit Ängsten und Nöten verstellen und mit
künstlich hervorgerufenen Bedürfnissen verbarrikadieren. Kurz: In solchen
Momenten empfinde ich in großem Ausmaß das, was man landläufig als Glück
bezeichnet.
Auf der anderen Seite ist der Jakobsweg
auch ein Weg der Exzesse, der Rekordversuche und des Narzissmus. Heißblütige
junge Männer muten sich am ersten Tag 65 Kilometer zu und sind erstaunt, dass
sie anschließend aufgrund der Schmerzen drei Tage pausieren müssen, alte Damen
tragen ihr Lieblingstier durch die sengende Hitze Nordspaniens, und einige Aussteiger
gehen den Weg durchweg barfuß. Manche gehen auf der Jagd nach Rekorden fast nie
auf dem Jakobsweg, sondern folgen dem Verlauf großer Straßen und nehmen dabei
den Lärm und die Abgase des Autoverkehrs auf sich, nur um schneller das
Tagesziel zu erreichen. Andere, darunter religiöse Eiferer und Puristen,
weigern sich, einen anderen Weg als den ursprünglichen zu nehmen. Bekannt ist
die Geschichte eines alten Pilgers, der einem verdutzten Floßführer seinen
Rucksack zur Übersetzung in die Hand drückte und dann neben dem Floß ins Wasser
sprang — um nicht
auf ein Hilfsmittel zurückzugreifen, das vor Hunderten von Jahren an dieser
Stelle vielleicht nicht z ur Verfügung stand.
Von den Aufwinden umschmeichelt
Conques ist ein kleiner Wallfahrtsort in
unvergleichlicher Lage: Von den Aufwinden umschmeichelt balanciert es trotzig
am Rande eines Abgrunds und bietet seinen Besuchern einen Blick auf die
umliegenden bewaldeten Steilhänge, der einem den Atem nimmt. Conques
präsentiert uns seine kopfsteingepflasterten Gassen wie Juwele und empfängt uns mit einer Armada traditionsreicher Bauwerke, deren Geschichte
bis ins Mittelalter zurückreicht. Im imposantesten davon, dem Kloster, finden
wir heute Zuflucht. Man hätte keinen besseren Ort finden können, um ein Kloster
zu bauen: Durch die Fenster blickt man direkt in die Hunderte Meter tiefer
gelegene Talmulde, während sich über einem der Himmel farbenreich bis in die
Unendlichkeit streckt, und in diesem Zwischenreich fühlt man sich zuweilen
seltsam schwebend, seltsam aufgehoben. Vielleicht gibt es keinen Ort, der unser
Menschsein so gut zusammenfasst wie dieses Kloster, ob wir nun
,eines Schatten Traum’ (Pindar), ,Bürger zweier Welten’ (Schiller),
,Herakles am Scheidewege’ ( Prodikos ) oder ,ein
unselig Mittelding von Engeln und von Vieh’ (Platon) sind.
In Conques treffen wir auch Pierre
wieder: Auf einmal ist er da und klopft uns auf die Schulter, während wir ihn
ungläubig anstarren, weil wir uns nicht vorstellen können, wie er mit seinen
Blasen so
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