2500 Kilometer zu Fuß durch Europa
nicht auf dem Platz übernachten können. Unter
Zuhilfenahme von Saquinas Augenaufschlägen und
unserer Überredungskunst, wobei ich meinen Exotenbonus (von Konstanz hierher
gelaufen!) skrupellos in die Waagschale werfe, fällt ihm jedoch ein, dass er
seinen eigenen Wohnwagen, der direkt neben dem Eingang auf dem Campingplatz
steht, zur Zeit nicht benötigt. Spontan bietet er uns an, dort die geplanten
zwei Nächte zu verbringen. So finden wir unvermittelt ein für unsere Begriffe
fürstliches Quartier inklusive Küche, Bett und Teppichen vor, während wir noch
vor wenigen Minuten dachten, die Nacht im Freien verbringen zu müssen.
Le Puy weist
zwar nur etwa 20.000 Einwohner auf, ist aber die Hauptstadt des Departements
Haute-Loire, das zur Region Auvergne gehört. Die Stadt duckt sich auf 650 Meter
NN in einen Talkessel, umgeben von den spektakulären Vulkangipfeln des Velay , und ist vor allem aus zwei Gründen über Frankreich
hinaus bekannt. Der erste Grund ist dunkelgrün und äußerst vitaminreich: Den lentilles , den Linsen des Velay ,
die es teilweise bis in die Gourmetrestaurants von New York geschafft haben,
ist hier ein eigenes Museum gewidmet. In einer kleinen Bar versuchen wir diese
kulinarische Spezialität zusammen mit einem Cassoulet .
Aus der anschließenden intensiven Diskussion über die Unterschiede zwischen
einem Cappuccino und einem Café Liégeois , bei der die
Meinungen zwischen Saquina und mir, dem Barbesitzer,
einer Kellnerin und zwei weiteren Lokalgästen weit auseinander gehen,
entwickelt sich eine lockere Unterhaltung über die wirtschaftliche Lage in
Europa, die Kulturen Afrikas, den Jakobsweg und die Rolle Le Puys bei alldem. Mit seinen Ansichten tritt der Barbesitzer
bei Saquina in jedes nur erdenkliche Fettnäpfchen,
bringt seine Argumente jedoch mit einer dermaßen selbstverständlichen
Herzlichkeit und einem treuen Blick vor, in dem immer wieder der Schalk
aufblitzt, dass wir diesem Charme nicht widerstehen können; wir biegen uns vor
Lachen.
Zweieinhalb Stunden später sagen wir
unseren neuen Freunden vorerst Lebewohl, da wir uns noch in der Stadt umschauen
wollen. Die Trennung fällt uns nicht leicht: Mein Französisch wird wiederholt
gelobt, Saquina wird freundlich, aber nachdrücklich,
zur Herausgabe ihrer Adresse aufgefordert. Am Ende sagen wir zu, in
St.-Jean-Pied-de-Port eine Postkarte an alle Diskutanten zu schicken. Gestärkt
und in bester Laune verlassen wir die kleine Bar und machen uns daran, den zweiten
Grund zu erkunden, für den Le Puy europaweit bekannt
ist: Jedes Jahr kommen über eine Million Pilger, und die Stadt hat dem
christlichen Glauben Denkmäler gesetzt. Auf einer Bergspitze, die sich mitten
in der Stadt in den Himmel schraubt, wacht eine 16 Meter hohe und über 110
Tonnen schwere begehbare Madonnenstatue über die Stadt. Und auf der ,Nadel’,
einer riesigen Felsspitze im Norden von Le Puy ,
steigt man 220 Stufen zur Kapelle Saint-Michel- d’Aiguilhe hinauf, von wo man einen Rundumblick auf die Altstadt und die Berge des Velay genießt. Von den Fenstern der massiv gegen den Wind
gelehnten Kapelle fällt der Blick Dutzende von Meter senkrecht die Steilwände
hinab. Saint-Michel- d’Aiguilhe sorgt für
Adrenalinschübe; gleichzeitig offenbart sich durch diese Kapelle auch ein
typisches Merkmal okzidentalen Denkens: Man will sich, der christlichen
Tradition folgend, die ,Erde untertan machen’ — ganz
im Gegensatz etwa zum zyklischen Denken in vielen asiatischen Ländern. Kein
buddhistischer Baumeister käme wohl auf die Idee, eine Kirche auf einem spitz
zulaufenden Vulkan zu errichten und damit ein weithin sichtbares Zeichen
menschlicher Überlegenheit über die Natur zu kreieren. Denn die meisten
östlichen Traditionen sehen den Menschen weniger als Meister als vielmehr als
Teil seiner Umgebung und definieren Weisheit zumeist als Handeln im Einklang
mit den vorhandenen Gegebenheiten.
Wieder einmal scheint uns das Glück
mitten ins Gesicht: Wir können das Feuerwerk des diesjährigen 14. Juli, des
französischen Nationalfeiertags zum Andenken an den Sturm auf die Bastille, der
wiederum die Revolution von 1789 einleitete, in Le Puy erleben, dem ersten großen Etappenziel meiner Reise, mit einer bis ins
Mittelalter zurückreichenden Pilgertradition.
Noch
1.600 Kilometer bis Santiago de Compostela.
Via Podiensis
Traditioneller
Trotz und die Rebellen des Südens
« Ici prend naissance la «Via Podiensis », grande route du
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