2500 Kilometer zu Fuß durch Europa
einem Abendessen, das einmal mehr an eine
ausschweifende Orgie erinnert, bis zwei Uhr nachts zusammen sitzen. Die
Stimmung ist bestens: Wir nehmen uns gegenseitig auf die Schippe, tauschen die
Erlebnisse auf unseren bisherigen Wegen aus, necken uns liebevoll und machen
uns gegenseitig mit der hiesigen Legende der ,Bestie des Gévaudan ’ vertraut, die wir uns immer blutiger
ausmalen.
Die ‚Bestie des Gévaudan ’
Am 30. Juni 1764 wird die 14 Jahre alte
Jeanne Boulet mit durchgebissener Kehle aufgefunden;
Tage später berichten mehrere Bauern der Region um Saugues von einem riesigen Wolf, der um ihre Herden streicht. Kurz darauf sterben zwei
weitere Mädchen. Ein Muster wird erkennbar: Die Opfer sind die Schwächsten der
Gesellschaft und alle Morde geschehen innerhalb einer Region, die von der Größe
her das Jagdgebiet eines Wolfes sein kann. In den kommenden Monaten werden
weitere Frauen und Kinder getötet. Die Bevölkerung bekommt Angst, erste
Legenden einer riesigen Hyäne, gar eines Werwolfs, machen die Runde. Da die
,Bestie des Gévaudan ’ für Schrecken weit über das
Gebiet der Auvergne hinaus sorgt, sieht sich König Ludwig XV verpflichtet, dem
Morden Einhalt zu gebieten, indem er einen Jagdtrupp aus sendet, über 1.000
Mann, die die Bestie erlegen sollen. Mehrmals präsentieren Jäger die Überreste
eines großen Wolfes, doch immer geht das Morden bereits wenige Wochen später
weiter. Zweieinhalb Jahre lang entgeht die Bestie allen Fallen der besten Jäger Frankreichs und reißt insgesamt 82 Frauen und Kinder in den
Tod, bis Jean Chastel, ein alter Bauer aus der Region, schließlich am 19. Juni
1767 in Saugues einen riesigen Wolf erlegt und die
Morde ein jähes Ende finden. Der Menschenfresser des Gévaudan hat Schriftsteller, Wissenschaftler und Filmemacher aus ganz Europa inspiriert
und ist eine der bekanntesten Legenden Frankreichs geworden. Mehrere Brunnen
der Region zeigen die Bestie in Stein gemeißelt, und auf der Kirche von Saugues blickt ein Wolf aus Granit auf die Gegend des Gévaudan herab, die drei Jahre lang das Jagdgebiet eines
Menschenfressers war.
Auf den kargen Höhenwegen des Aubrac
Kurz nach Saugues breitet sich das Hochland des Aubrac vor uns aus.
Eine karge, an die schottischen Highlands erinnernde
Landschaft erstreckt sich bis zum Horizont, und eine frische Brise mischt sich
mit den Sonnenstrahlen, die auch heute ungefiltert auf den Boden prallen, ohne
von der weichen Barriere einer Wolke aufgehalten zu werden. Mehrmals kreuzen
wir querfeldein die Weideflächen der hier ansässigen Aubrac -Rinder,
die über beeindruckende, in weitem Bogen nach vorne geschwungene Hörner
verfügen und als widerstandsfähig, genügsam und äußerst wohlschmeckend gelten.
Das Hochland des Aubrac ist ein Paradebeispiel für
den Erfolg der in den 80er Jahren unter Mitterand vorangetriebenen
Dezentralisierung Frankreichs: Galt sie bis zu jener Zeit noch als verarmt und
verwaist, hat sich die Aubrac -Region inzwischen dank
neu angesiedelter Manufakturen und einem durchdachten Tourismuskonzept zu einem
erfolgreichen Wirtschaftsraum gemausert. Gleichzeitig besinnen sich ihre
Bewohner immer stärker der alten Traditionen, bereiten die nahrhafte
Kartoffel-Käse-Mischung Aligot wieder in den
eigens hierfür vorgesehenen Hütten zu und pflegen ihr Occitan ,
ehemals die Sprache der französischen Troubadoure.
Der gestrige Gewaltmarsch von Le Puy nach Saugues steckt uns allen
noch in den Knochen. Pierre kämpft zudem gegen mehrere Blasen, die ihm bei
jedem Schritt schmerzen und entscheidet sich gegen Mittag, Saquina und mich ziehen zu lassen und zwei Stationen vor unserem eigentlichen Ziel Halt
zu machen. Mit gemischten Gefühlen gehen wir weiter: Bereits in der kurzen Zeit
unserer gemeinsamen Wanderung haben wir Pierre ins Herz geschlossen. Durch
seinen spontanen Humor und seine vielseitigen Kenntnisse hat er uns in den
vergangenen 24 Stunden viele schöne Momente geschenkt, dank denen wir gar nicht
bemerkt haben, wie die Zeit verging. Noch ahnen wir nicht, dass wir uns schon
sehr bald wieder sehen werden, und dass unsere Gruppe zudem auf äußerst
sympathische Weise noch erweitert werden würde.
Ein Viperangriff in Südfrankreich
Espalion gilt als ,les portes du midi ’ , die ,Pforten zu Südfrankreich’, und
tatsächlich treffen wir immer häufiger auf eine mediterrane Mentalität: Die
Mittagspause der Läden zieht sich mancherorts bis 17 Uhr hin, und in
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