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2500 Kilometer zu Fuß durch Europa

2500 Kilometer zu Fuß durch Europa

Titel: 2500 Kilometer zu Fuß durch Europa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bauer
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der
kommunalen Herberge kurz vor Nasbinals erklärt man
uns, dass sie leider immer dann telefonisch nicht zu erreichen sei, wenn der
Bruder des Besitzers gerade im Internet surft. Kurz darauf treffen wir auf
einen weiteren Bewohner des Südens: Vertieft in ein Gespräch merke ich erst im
letzten Moment, wie sich unter mir etwas bewegt und entdecke zu meinem
Entsetzen eine Viper, die ihren Körper angriffslustig zu einem S formt, ein
einziger Muskelstrang, und mir mit erstaunlich lauten Zischlauten klar macht,
dass die Anwesenheit eines Pilgers hier in ihrem Revier unerwünscht ist. Hin
und her gerissen zwischen meiner Angst und dem widersinnigen Wunsch, dieses
Wesen näher zu erforschen — die Viper strömt eine eigentümliche Faszination
aus, die mit der Neugier auf Fremdes in mir geradezu perfekt korrespondiert — fälle ich nach einigen Sekunden des Abwägens die
vorbehaltlos als vernünftig einzuordnende Entscheidung, mich vorsichtig
zurückzuziehen. Trotzdem schnellt der Körper der Schlange plötzlich vor, als
ich gerade meinen Fuß wegziehe, und verfehlt meinen Schuh nur um Haaresbreite.
Noch während ich mich mit einem Satz in Sicherheit bringe, bin ich
nachdrücklich beeindruckt von der Schnelligkeit, mit der das alles geschieht.
Als die Viper zustößt, habe ich ihre Bewegung nicht einmal realisiert, so
schnell hat ihr Kopf den Weg bis kurz neben meinen Fuß zurückgelegt. Ein
ansatzloses Vorschnellen und Zuschlägen im Bruchteil einer Sekunde, wie wenn
eine französische Ampel plötzlich von Rot auf Grün umspringt, und zwischen
diesen beiden Momenten geschieht etwas, das für menschliche Maßstäbe zu schnell
passiert, um wahrgenommen zu werden.
     
     
    Zehn Zeilen Gesellschaftskritik
     
    In gewisser Weise entspricht das Pilgern
auf dem Jakobsweg gelebtem Existenzialismus. Denn wenn wir unterwegs sind,
empfinden wir uns als in die Welt geworfen, als zurückgeworfen auf uns selbst,
und wir sind es, die den Weg wählen. Durch unsere Entscheidungen kreieren wir
für unser Leben einen Sinn, und nirgendwo sonst meldet sich die Einsicht so
lautstark, diese innere Stimme, die uns zuruft, dass wir dazu verurteilt sind,
frei zu sein. Indem wir auf das unnötige Beiwerk verzichten, das uns die
Wohlstandsgesellschaft als unentbehrlich vorgaukelt, konzentrieren wir uns auf
das, was wirklich wesentlich ist.
     
    Über Estaing, das dank seiner imposanten
Burg und seiner idyllischen Lage an einem kleinen Fluss als eines der zehn
schönsten Dörfer Frankreichs gilt und entgegen einer offiziell verbreiteten
Version nichts mit Valéry Giscard d’Estaing, dem französischen
Staatspräsidenten von 1974 bis 1981, zu tun hat, gelangen Saquina und ich heute nach Golinhac . In der dortigen Pilgerhütte
ist nur noch ein Bett frei, aber der für die Platzvergabe zuständige
Angestellte, ein durchtrainierter 25-Jähriger mit Rastazöpfen und strahlend blauen Augen, lässt extra für mich zwei Matratzen vom Nachbarort
herbeischaffen. Der Platz auf dem Boden des Flurs ist mir sowieso lieber als
ein Bett im überfüllten Schlafsaal. Bis spät in die Nacht schreibe ich im
Schein einer Straßenlaterne Notizen auf Schmierzettel, versuche zu
konservieren, was mir wichtig erscheint, die Momente, die mich überrascht haben,
durch die Zeiten zu tragen und zu bündeln, was mich beeindruckt hat.
     
    Die Situation in Golinhac weist auf einen Missstand hin, mit dem viele Jakobswegwanderer in Frankreich zu
kämpfen haben. Im Gegensatz zu Spanien sind die entsprechenden Herbergen hier
nämlich nicht ausschließlich für Pilger reserviert. Stattdessen nehmen
vielerorts motorisierte Touristen die Chance wahr, eine günstige Übernachtung
in einer der raren Unterkünfte zu verbringen und zwingen die Pilger nicht
selten dazu, nach vierzig Kilometern Fußmarsch noch einen Umweg zu machen oder
eine Nacht im Freien zu verbringen. Auf der anderen Seite verhalten sich einige
Pilger ebenfalls alles andere als bescheiden. Was ein Jakobswegwanderer
erwarten kann, ist ein Dach über dem Kopf, Schutz vor der Kälte der Nacht und
gegebenenfalls vor schlechtem Wetter, nicht aber ein Rundum-Service ohne
Aufpreis. Dies nicht nur einzusehen, sondern als Chance wahrzunehmen, aus
seinen Gewohnheiten und der Bequemlichkeit seines Alltags ausbrechen zu können,
ist eine Grundvoraussetzung für echtes Pilgern. Nicht die Askese, wohl aber die
Bescheidenheit ist darum ein unentbehrlicher Bestandteil jeder Pilgerschaft,
egal wohin die Reise geht.
     
     
    Zehn Zeilen

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