2500 Kilometer zu Fuß durch Europa
mich gleich erkannt habe, ich sei ihr beschrieben worden, zudem habe
bereits jemand ein Abendessen für uns zubereitet. Dieser jemand ist Pierre, der
auf uns gewartet hat. Wir fallen uns in die Arme, tauschen die Erlebnisse der
vergangenen Tage aus. Wenn man über die Wahrscheinlichkeit nachdenkt, dass eine
Herbergsmutter zur ,Prime Time’ ihr Etablissement verlässt, dass sie dies just
in jenen Minuten tut, in denen Saquina und ich auf
dem Weg durch Condom sind, dass sie unseren Weg
tatsächlich kreuzt und mich schließlich noch nach meinem Namen fragt, kann man
wirklich ins Grübeln kommen.
Der Swing der Leichtigkeit
Auch in unserer nächsten Station, Aire sur L’Adour ,
bekommen wir Hilfe, als wir sie am wenigsten erwarten; fast scheint es, als
halte jemand eine schützende Hand über uns — und das sage ich als bislang
überzeugter Atheist. Telefonisch habe ich ein Zimmer im Hôtel de la Paix reserviert. Aber mittlerweile befinden
wir uns tief in Südfrankreich, und das ,Hotel des Friedens’ macht bei unserer
Ankunft seinem Namen alle Ehre: Gelassen dämmert es vor sich hin, was in erster
Linie daran liegt, dass sich weder die Besitzerin, mit der ich telefoniert
habe, noch irgendein Gast darin aufhält. Tatsächlich ist das Gebäude von einer
vollständigen Stille umgeben, die wir rüde durchbrechen, als wir zunächst
klingeln und dann immer energischer an Türe und Fensterläden klopfen. Nach über
einstündiger Aktivität und dem erfolglosen Versuch, durch ein offenes Fenster
im zweiten Stock ins Innere zu klettern, finden wir uns mit der Tatsache ab,
dass das ,Hotel des Friedens’ heute ganz entgegen
seiner natürlichen Bestimmung unbewohnt bleiben wird. Just in diesem Moment
schlendert ein alter Mann die Straße entlang, auf der wir uns — mittlerweile
erschöpft von unseren Versuchen, das Gebäude hinter uns bewohnbar zu machen —
auf einer Bank ausruhen. Als wir ihm erzählen, wie wir die vergangenen neunzig
Minuten verbracht haben, erklärt er uns, dass sein Bekannter erst vor kurzem
zwei Straßen weiter einen kleinen gîte , eine
Pilgerherberge, eröffnet habe, und dass wir gerne dort willkommen seien. Stolz
führt er unseren kleinen Trupp zu der Unterkunft, einem umgebauten Hotel mit
Doppelbetten und Dusche, ganz in Holz gehalten, deren Besitzer uns warmherzig
empfängt und sich sofort nachdrücklich bei uns einprägt. Vor zwei Jahren ist er
den Jakobsweg entlang gegangen, von Aire sur l’Adour bis Santiago, und
unterwegs hat er etwas wie Ruhe, etwas wie Glück gefunden. Man sieht es in
seinen Augen: Wenn er von seiner Reise erzählt, blitzt eine Freude in seinen
Blicken auf, die uns alle beeindruckt; und wenn er lacht, scheint es, als
lachten alle Grübchen seines Gesichts mit ihm. Vor zwei Jahren verließ er sein
Heimatdorf als ein Mann mit privaten Problemen und beruflichen Fragezeichen,
und zurück kam er mit der Idee, diese Herberge zu eröffnen; die
Inneneinrichtung aus massivem hellbraunen Eichenholz hat er selbst entworfen.
Seine Gesten und Worte sind geprägt von einer inneren Gelassenheit, die
gleichzeitig Passion und Enthusiasmus zulässt. Eine Mischung, die keinen von
uns kalt lässt, und ähnlich erging es offensichtlich auch denjenigen, die vor
uns hier übernachtet haben: Wir finden dankende Worte, Aphorismen und
aufmunternde Zitate in den Gästebüchern, auf Zetteln und sogar an den Wänden im
Esszimmer. Auch Aire sur l’Adour empfängt uns am nächsten Morgen freundlicher als
noch am Abend zuvor: Langsam schlendern wir durch die Gassen dieser von der
Sonne verwöhnten Stadt, in der die Musik aus den öffentlichen Lautsprechern für
eine ausgelassene, lockere Stimmung sorgt, für das Flair des Südens, den Swing
der Leichtigkeit.
Bar jeglicher Darstellungskunst
In Aroue übernachten wir zusammen mit einer Reisegruppe, die uns spontan unsympathisch
ist, auf einem Bauernhof. Wieder beneidet man unsere Harmonie; diesmal jedoch
fallen uns sofort die Zwänge auf, denen die Gruppe unterworfen ist. Vor allem
die anwesenden Damen entwerfen eifrig Regeln und Vorschriften, generell
herrscht eine Mischung aus Darstellungssucht und Hierarchiedenken, bei der
jeder den anderen auszustechen versucht, was uns unmittelbar, und ohne dass wir
uns dies sagen müssten, abschreckt. Vielleicht macht der Jakobsweg sensibel für
Dinge dieser Art. Denn wenn man erst die Erfahrung macht, auf sich allein
gestellt zu sein, wenn man aufgrund der eigenen Unachtsamkeit vom Weg
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