2500 Kilometer zu Fuß durch Europa
abkommt
oder entscheiden muss, ob man heute trotz eines schmerzenden Knies weitergeht
oder nicht, dann steht man sich selbst gegenüber, bar jeglicher
Darstellungskunst, jeglicher Spitzfindigkeiten, und dann erst hat man die
Chance, seine Stärken und Schwächen kennen zu lernen. Das ist ein weiteres
Geschenk, das dieser Weg für uns bereit hält und das uns, wenn wir es annehmen,
stärker macht, selbstbewusster im Wortsinn.
Ein freundschaftliches Wettrennen
Ich fürchte mich vor der Ankunft in
St.-Jean-Pied-de-Port. Hier werden sich unsere Wege trennen, und ich werde
allein weiterziehen, genauso wie ich angefangen habe. Unser Einmarsch in das
baskische Touristendorf wird jedoch unerwarteter Weise spektakulär, denn auf
einer stark befahrenen Straße fünf Kilometer vor unserem Tagesziel dreht sich
Pierre zu mir um, zwinkert mir zu und beginnt plötzlich zu laufen. Sofort nehme
ich sein Angebot an: Zuerst joggen wir mit Rucksack, Pilgerstöcken und Sandalen
zur Freude der Autofahrer Richtung St.-Jean-Pied-de-Port, dann mobilisieren wir
unsere letzten Kräfte und liefern uns ein gnadenloses Wettrennen, das erst an
der Herberge, unserer letzten Übernachtung in Frankreich, endet. Touristen
schauen uns verdutzt hinterher, LKW-Fahrer rufen uns Aufmunterungen zu, und Saquina hält sich den Bauch vor Lachen.
Am nächsten Morgen bekomme ich beim
Frühstück kaum einen Bissen herunter, und nach mehreren langen Umarmungen bin
ich plötzlich wieder allein unterwegs. Kein Komet reißt mich mehr mit,
keine Ballerina tänzelt in meiner Nähe und kein Flaneur weiht
mich mehr in die Geheimnisse französischer Lebenskunst ein. Erst wenn man sich
von seinen Freunden trennt, ist man wirklich einsam.
Noch wusste ich nicht, wie anders von
nun an alles werden sollte. Und dass ich in ein magisches Land kommen würde, in
anmutige Gegenden voller Legenden und in Regionen, über denen die Geheimnisse
wie Wolken schweben. Als ich die Stadtmauer von St.-Jean-Pied-de-Port hinter
mir lasse, weiß ich nur, dass ich in wenigen Stunden in Spanien sein werde —
und vielleicht bin ich mir auch klarer darüber geworden, was mich an diesem Weg
so fasziniert: Während Wissenschaftler zumeist erforschen, wie man das
menschliche Leben verlängern kann, und während die meisten Firmen darüber
nachdenken, wie man es mit möglichst viel Spielzeug füllt, interessiere ich
mich vor allem für die Intensität , mit der wir leben.
Spanien
Navarra
Unterwegs in biblischen Landschaften
Seit meinem Aufbruch aus
St-Jean-Pied-de-Port habe ich den Eindruck, auf einem anderen Weg zu sein. Das
kleine Baskendorf ist die letzte Jakobsweg-Station auf französischer Seite und
gilt seit jeher als idealer Ausgangspunkt für die Mehrzahl der Pilger. Von hier
an wird ein täglich wachsender Schwarm von Wanderern von Herberge zu Herberge
ziehen. Wenige Minuten nachdem ich losgelaufen bin, beginnt der Weg steil
anzusteigen: Über den Ibañeta-Pass geht es über die Pyrenäen nach Spanien. Wie
in dieser Gegend üblich ist das Wetter unbeständig und rau, und nach wenigen
Metern ziehen Nebelschleier auf. Zehn Minuten später bin ich umhüllt von
feuchten grauen Wänden, die mich von der Außenwelt abschneiden. Aus der Ferne
ertönen die Stimmen weiterer Wanderer, und es kommt mir vor, als sei ich nicht
nach Spanien gelangt, sondern stattdessen in ein unbekanntes Land abgedriftet,
in dem zu den Geräuschen keine Körper mehr gehören, und in dem alle
Gewissheiten durch Ahnungen ersetzt sind.
Auf der Südseite der Pyrenäen, etwa 50
Kilometer hinter der Landesgrenze, erwartet mich heute Zubiri, ein baskisches
Dorf, das vollständig auf die Bedürfnisse der Pilger eingestellt ist: Der
örtliche Supermarkt hat bis spät in die Nacht geöffnet, im Schaufenster der
Apotheke locken Anti-Blasen-Pflaster, und zum ersten Mal seit meinem Aufbruch
vom Bodensee übernachte ich in einem refugio , einer eigens für Jakobswegwanderer reservierten ,Zuflucht’, die von
Freiwilligen unterhalten wird und an eine sehr große Jugendherberge erinnert.
Die refugios bieten die beste Möglichkeit,
eine einfache, oftmals kostenlose oder gegen eine freiwillige Spende zu
beziehende Unterkunft zu erlangen, in der man sich mit Gleichgesinnten aus
aller Welt austauschen kann.
„Der Jakobsweg ist für die einfachen Leute“
Auf dem Jakobsweg habe ich vor allem
Spanier, Franzosen, Italiener, Deutsche, Ungarn und Brasilianer getroffen und
insgesamt sind mir
Weitere Kostenlose Bücher