2500 Kilometer zu Fuß durch Europa
junge Sportskanonen und gebrechliche Rentner, Aussteiger und
Geschäftsleute, religiöse Fanatiker, Geschichtsprofessoren, Jugendgruppen und
Gelegenheitswanderer aus 18 Ländern begegnet. Auch wenn viele Ausnahmen die
Regeln bestätigen, ergeben sich durch den permanenten Vergleich manchmal doch
gewisse Strukturen, kann man den jeweiligen Gruppen bestimmte Eigenschaften zuordnen, spezifische Eigenarten, die sie voneinander abheben und
darum interessant machen. So habe ich beispielsweise auf dem gesamten Weg nur
einen einzigen Italiener getroffen, der allein unterwegs war; ansonsten sind
die italienischen Jugendgruppen zuweist diejenigen, die ab 23 Uhr abends so
richtig aufblühen und den Weg in erster Linie als CVJM-artiges Gruppenerlebnis
zelebrieren. Wohingegen fast alle Franzosen, sofern sie überhaupt über die
französische Grenze hinausgelangen, allein oder zu Zweit unterwegs sind. Spanier trifft man in beiden Formationen; aber in jedem Fall
sprechen sie lauter und schneller als alle anderen. Und Deutsche erkennt man
zielgenau daran, dass sie mit aller Macht versuchen, nicht deutsch zu wirken. Vor allem uns fugendlichen ist es wichtig
uns als das Gegenteil eines peniblen deutschen Beamten darzustellen. Außer an
unseren verkrampften Versuchen, möglichst locker zu wirken, erkennt man uns
Deutsche auch daran, dass wir das Komplizierte mögen. In unseren
Autobahn-Raststätten erhält man einen ,Wert -Bon’, um
auf die Toilette gehen zu können und hat danach vier verschiedene Mülleimer zur
Auswahl, um in einem seine Verpackungen loszuwerden. Entscheidet man sich
stattdessen, den Zug zu nehmen, muss man sich spätestens Zwei Wochen vor der
Abfahrt den Kopf darüber zermartern, ob das Wochenend-Spezial-Ticket, das am
Freitag um 22 Uhr beginnt, in unserem Fall wirklich besser ist als das
Extraticket ,unter 25’, das wiederum nur mit einer Bahncard 2. Klasse wirklich
Sinn macht. Durch unsere Vorliebe für alles, was kompliziert ist, hat sich eine
Pseudo-Expertenkultur entwickelt, dank der Menschen Geld bekommen, um uns Dinge
zu erklären, die überflüssig sind. Und oftmals sind wir damit beschäftigt,
Probleme zu lösen, die erst durch unser künstlich verkompliziertes System
hervorgerufen werden. Vielleicht kann gerade darum der Weg nach Santiago für
uns so wohltuend sein. „Der Jakobsweg ist für die einfachen Leute“, resümiert
der brasilianische Autor Paulo Coelho. Man isst, wenn man Hunger hat, und wenn
man müde ist, sucht man sich eine Herberge.
Das Rosenwunder von Ibañeta
Mittlerweile bin ich nur noch einen Tag
von der Baskenmetropole Pamplona entfernt. Die Ortsschilder sind zweisprachig,
ich werde auf baskisch gegrüßt. Man spielt pelota , indem man mit
schalenförmigen Schlägern Bälle auf große Wände wirft. Die Häuser sind
schlicht, relativ klein und meistens weiß gestrichen, mit dunkelroten Rollläden
vor den Fenstern.
Am Camino de Santiago entstanden über
die Jahrhunderte Kirchen und Klöster, Hospitäler und Herbergen, Burgen und
Brücken. Viele Wallfahrer blieben auf dem Weg nach Galizien hängen: Neusiedler
wurden mit Steuervorteilen gelockt, komplett neue Ortschaften wurden aus dem
Boden gestampft, und nordspanischen Regionen wie Navarra und La Rio ja brachte
der Jakobsweg Wohlstand und Reichtum. Sprachbarrieren überwand man mit dem
hierfür am besten geeigneten Mittel: mit Musik. So hatten die Wallfahrer großen
Einfluss auf die Entwicklung des religiösen Gesangs. Mit den Fremden kamen neue
Eigenarten, Kulturen und Kunsteinflüsse ins Land, vor allem aber neue
Geschichten und Legenden, die sich in Windeseile verbreiteten. Nicht immer
basieren diese alten Sagen auf gesicherten Quellen, vieles wurde aufgebauscht,
manches verzerrt; aber es sind Geschichten, an die viele Menschen in
Nordspanien noch heute glauben, und Legenden, die das Gesicht des Jakobswegs
prägen.
Im Jahr 778 n. Chr. führt Karl der Große
die karolingischen Heere nach einem Feldzug gegen die Mauren in Südspanien über
die Pyrenäen zurück nach Frankreich. Die Nachhut wird angeführt von Ritter
Roland, Sieger zahlloser Schlachten und mittlerweile eine lebende Fegende. Als
die Nachhut des karolingischen Heeres den Pyrenäen-Pass bei Ibañeta erreicht
und die schwer zu überschauende enge Stelle passieren will, tauchen plötzlich
hinter jedem Felsen maurische Krieger auf und stürzen sich auf das vom langen
Rückweg erschöpfte Christenheer. Innerhalb kurzer Zeit wird die gesamte Nachhut
der
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