2500 Kilometer zu Fuß durch Europa
Gegen halb sechs Uhr morgens erwacht man in einer
Pilgerherberge vom Tumult der anderen, die um einen herum aufstehen. Nach einem
kurzen Frühstück erlebt man einen herrlichen Sonnenaufgang; in den frühen
Morgenstunden kommt man am schnellsten voran. Bis die Hitze schließlich gegen
13 Uhr ihren Höhepunkt erreicht, hat man etwa 25 bis 30 Kilometer zurückgelegt.
Die meisten Pilger suchen sich zu dieser Zeit bereits eine
Übernachtungsmöglichkeit und verdösen die heißen Stunden des Tages, um den
Abend schließlich mit einem Essen inklusive Gitarrenmusik und dem Austausch von Lebengeschichten ausklingen zu lassen. Während die
Mehrzahl der Pilger siesta hält, nutze
ich die Zeit ab dem frühen Nachmittag, um nach einem äußerst reichhaltigen
Mittagessen noch einige Stunden für mich zu sein und weiterzulaufen, bis ich
ein Dorf erreiche, das mir gefällt. Das sind fast immer die Momente, in denen
es mir gelingt, die Vergangenheit und Zukunft abzustreifen, meine Gedanken vom
Körper zu lösen und schwerelos mit dem Augenblick zu verschmelzen. Ich spüre in
solchen Momenten nichts mehr. Nicht den Aufprall meiner Schritte auf dem
trockenen Boden, nicht das Gewicht des Rucksacks auf meinem Rücken. Nicht die
Kontraktion der Beinmuskeln, die mich vorwärts schiebt. In diesen Momenten
schlagen die Gedanken eigene unvorhersehbare Wege ein. Es ist ein Gefühl, als
sei man auf Droge, betrunken vom Weg , ,high’ von der
Umgebung und gedopt mit der Masse an Eindrücken, die einen umgeben: den nicht
enden wollenden Feldern, dem Horizont, in dem die Sonne wie ein riesiges gelbes
Auge hängt, und der permanenten körperlichen Anstrengung. Ich habe Pilger
kennen gelernt, die sich täglich systematisch zehn Kilometer mehr vornehmen,
als es ratsam wäre, und die sich jeden Tag von Neuem durch eine Phase körperlicher Schmerzen kämpfen, um manchmal am Ende dieses
Gefühl der vollständigen Loslösung zu erleben. Natürlich ist das unvernünftig,
ständig operiert man hart an seinen Grenzen. Es ist exzessiv wie eine wild
durchtanzte Nacht. Dionysos unterwegs, Destination Santiago. Von der Mehrzahl
der Pilger, die pro Tag etwa 25 Kilometer zurücklegen und vor der Mittagshitze
bereits am Ziel sind, werden solche Leute zumeist als locos ( ,Spinner’ ) bezeichnet, die die Elemente heraus
fordern, indem sie in der Gluthitze weitergehen. Ich fürchte, ich gehöre dazu.
Jetzt verstehe ich auch Saquina besser, die mir wie ein Komet vorkam, als ich sie
in Frankreich getroffen habe. Auch bei ihr wirkt der Weg wie eine Droge, er ist
schön und gefährlich und unwiderstehlich. Und wie sie mir damals verbissen
vorkam, eine Kilometerfresserin auf der Suche nach Rekorden, so muss ich jetzt
wohl den anderen Pilgern vorkommen. Dabei treibt uns beide nicht der Wunsch,
besser als andere zu sein. Wir zählen die Kilometer nicht, wir haben keine
Uhren dabei. Wir gleiten von Augenblick zu Augenblick, ein Moment löst den
vorhergehenden ab, und die Wegstrecke ist nur Mittel zum Zweck, um diese und
ähnliche Gefühle hervorzurufen. Auf diese Weise legen wir manchmal Entfernungen
zurück, die anderen verrückt erscheinen.
Die Evergreens des Jakobswegs
In Viana empfängt man mich in etwa wie den
direkten Abkömmling von Jakobus. Im Turm der Kirche befindet sich eine
Pilgerunterkunft, in der für uns gekocht, gesungen und gebetet wird. Zuvor
kommt das ganze Dorf zusammen, um uns Pilgern in der Kirche persönlich Glück
und Erfolg zu wünschen. Es ist eine ergreifende Zeremonie, bei der wir den
Segen des gesamten Dorfes für unseren weiteren Weg ausgesprochen bekommen. Beim
Abendessen sind wir zu zwölft: Je zwei Spanier, Franzosen und Ungarn, eine
Britin, eine Österreicherin, eine Deutsche, ein Brasilianer, die Herbergsmutter
und ich. Wir sind ausgelassen, obwohl einigen von uns die körperlichen
Strapazen deutlich anzusehen sind, und wir sind sehr unterschiedlich. Während
die Britin ständig betont, ihre Identität finden zu müssen, blickt die Deutsche
die ganze Zeit müde auf ihren Teller, als suche sie in den mit Schinken
durchsetzten Nudeln nach einer alles entscheidenden Antwort. Die Spanier und
Ungarn machen Stimmung und fachsimpeln in Spanisch, Englisch und Französisch
lautstark über die richtige Anbauweise von Hanf, der Brasilianer erzählt —
sofern ich das richtig verstehe; er spricht mit starkem portugiesischen Akzent
— von Momenten der Zwiesprache mit Gott, wodurch er wiederum die Herbergsmutter
von Anfang an auf
Weitere Kostenlose Bücher