2500 Kilometer zu Fuß durch Europa
ihre Bewegungen von
größter Vorsicht geprägt. Geht es bergab, tastet ihr Fuß scheu nach einer
sicheren Stelle, bevor sie ihr Gewicht darauf verlagert, und in meinen Gedanken
ordne ich ihr den Bewegungstyp Fahrschülerin zu, weil sie sich langsam
und vorsichtig vorwärts bewegt, als gäbe es rundherum Regeln und Gefahren. Es
hätte mich nicht gewundert, wenn sie vor einer Linkskurve über ihre Schulter
blicken würde, um irgendetwas im toten Winkel ihres Blickfelds ausfindig zu
machen.
Puente la Reina gehört zu den
bekanntesten Dörfern auf dem Jakobsweg. Vor fast 1.000 Jahren stiftete Doña Mayor, Monarchin von Navarra, eine imposante
Steinbrücke, die seither die Jakobspilger in sechs Bögen schwungvoll über den Arga führt, und am Ortseingang weist eine bronzefarbene
Jakobusfigur darauf hin, dass sich hier die beiden großen Jakobswege, von den
Pyrenäenpässen Somport und Ibañeta kommend, vereinigen. Im Ort selbst führt der
Jakobsweg an den reich verzierten Häuserfronten der Altstadt und den
monumentalen Kirchen Crucifijo und Santiago vorbei,
und wieder bekomme ich Gelegenheit, die aufsteigende Hitze zu bekämpfen, indem
ich mir eine große Packung Eis kaufe. Dabei stelle ich fest, dass die Meinungen
über die wohltuende Wirkung von Eis bei Hitze durchaus auseinander gehen:
Während meine Meinung stark dafür ist, halten die anderen nicht viel davon.
In der Sonnenwüste
In Estella sind alle Betten der
Pilgerherberge belegt, also beschließe ich, die Nacht im patio ,
dem Innenhof der Unterkunft, zu verbringen. Um mich auf die ungemütliche Nacht
auf dem Steinboden vorzubereiten, unterhalte ich mich lange mit einer Gruppe
Italiener. Schnell sind wir uns einig, dass der Wein in Spanien schlechter ist
als in Italien, und dass uns deutsche Musikgruppen meistens besser gefallen als
italienische. Wir trinken erstaunliche Mengen Wein, und anschließend sinke ich
in meinen Schlafsack. Trotzdem fallt mir das
Einschlafen auf dem harten Boden nicht leicht, und nach nur wenigen Stunden
Schlaf werde ich vom Aufbruch der ersten Pilger geweckt. Auf dem Weg nach
Viana, das auf einem kargen Hügel angesiedelt ist, treffe ich die italienische
Gruppe wieder. Ein Mädchen lächelt mir zu, aber ich habe mich noch nicht an die
Pilgergruppen gewöhnt und beschließe, vorerst allein weiterzugehen. Es lohnt
sich, denn dieser Tag hält einige Überraschungen für mich bereit.
Vor der Nachmittagshitze suche ich
Schutz im Schatten eines einzelnen Baumes. Um mich herum erstrecken sich karge
Felder und vereinzelte Flügelketten bis zum Horizont; die Sonne taucht die
sandigen Böden in ein gelbrötliches Licht. Konzentriere ich mich auf eine
einzelne Stelle in der Landschaft, kann ich sehen, wie die Hitze, von der
Erdoberfläche reflektiert, die Luft bis etwa drei Meter über dem Boden zum
Flimmern bringt. Und während ich all dies sehe, fühle ich mich fast
unangreifbar unter dem Blätterdach dieses Baumes, geschützt vor der
Mittagshitze. Aus meinem Schutzraum werfe ich meine Blicke in die Umgebung, aus
der privilegierten Position eines Betrachters, geschützt vor der Welt und
dennoch aufgehoben in ihr, nicht zurückgeworfen auf mich selbst wie in der
Kirche von Pamplona, nicht abgekoppelt von den Geschehnissen um mich herum.
Nein, ich spüre den Wind in meinem Gesicht, ich sehe, was um mich herum
passiert. Erst seit jenem Tag weiß ich, was es bedeutet, wenn in den alten
biblischen Texten davon gesprochen wird, dass jemand ,Schutz im Schatten eines
Baumes’ sucht, und es scheint mir nicht verwunderlich, dass Siddharta der Legende nach die Erleuchtung erlangte und zu Buddha wurde, nachdem er
vierzig Tage lang unter einem Maulbeerbaum meditierte. Ihr solltet es
ausprobieren, ehrlich, es mag abgefahren klingen, aber es ist ein unsagbar
friedliches, unschlagbares Gefühl, und wenn es einen Ort gibt, an dem gute
Gedanken entstehen, dann ist es dieser. Seitdem ich weiß, was ein einzelner
Baum inmitten einer Sonnenwüste bewirken kann, misstraue ich allen Gedanken,
die an verrauchten Schreibtischen, in muffeligen Hinterzimmern und vor
verstaubten Computern entstanden sind.
Meine philosophischen Höhenflüge finden
vorerst ein Ende, als sich nach etwa einer Stunde ein Trupp Jakobspilger
entschließt, ebenfalls ein Päuschen im Schatten des
Baumes einzulegen. Mittlerweile ist es voll geworden auf dem Jakobsweg,
zumindest morgens. Der typische Tagesablauf eines Pilgers gestaltet sich dabei
in etwa folgendermaßen:
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