2500 Kilometer zu Fuß durch Europa
und wundersamen Erzählungen, die teilweise seit Jahrhunderten von
Generation zu Generation weitergegeben werden. Die bekannteste davon ist das
Hühnerwunder von Santo Domingo de la Calzada. Eines Tages kam eine deutsche
Pilgerfamilie in die Stadt. Auf ihrer langen Reise waren die Eltern mit ihrem
Sohn unterwegs, der überall die Blicke der Dorfjugend auf sich Zog: Der junge
Mann hatte strahlend blaue Augen und blonde Locken. Auch eine Magd des
Gasthofs, in dem die junge Familie übernachten wollte, hatte ein Auge auf den
fremden Besucher geworfen. Nach dem Abendbrot sah sie ihre Chance gekommen und
machte ihm ein eindeutiges Angebot. Der Jüngling aber lehnte mit Bedauern ab
und erklärte, dass er dem heiligen Jakobus unberührt gegenübertreten wolle. Die
Magd schäumte vor Wut: Noch nie hatte jemand ihren Köper abgelehnt. Als sich
die junge Familie schlafen legte, stand ihr Plan fest. Auf Zehenspitzen schlich
sie zum Gepäck und versteckte einen silbernen Becher des Gasthofs in der Tasche
des Jungen. Frisch gestärkt bedankte sich die Familie am nächsten Morgen für
die herzliche Aufnahme und machte sich auf den Weg Richtung Santiago. Sie kam
nicht weit. Als sie gerade außer Sichtweite des Gasthofs war, ertönten dort
laute Schreie. „Ein Dieb, ein Dieb!“ Die Rufe der Magd hallten über das
Anwesen. „Man hat uns bestohlen! Unser silberner Becher ist verschwunden!“
Sofort war die abreisende Familie von aufgebrachten Dorfbewohnern umringt. Sie
durchwühlten das Gepäck des jungen und brachten vor seinen verdutzten Augen den
Becher zum Vorschein.
Am nächsten Tag wurde der Junge vor den
Augen seiner entsetzen Eltern auf dem Platz von $ anto Domingo de la Calzada gehängt. Unter den Schaulustigen
befand sich auch die triumphierende Magd. Die Eltern konnten dem Schauspiel
nicht zusehen: Sie wandten sich ab und schworen, am Grab des Apostels um
Vergebung für die Sünden ihres vom Weg abgekommenen Sohnes zu bitten. Als sich
die Menge verbog, standen sie noch immer wie versteinert auf dem Platz Aber was
war denn das...? Allein mit ihrem Sohn vernahmen sie auf einmal dessen Stimme.
Spielte die Einbildung ihnen einen Streich? Aber nein, dort am Galgen hing ihr
Sohn und blickte sie an, er war am Leben. Da fielen Vater und Mutter vor Dankbarkeit
auf die Knie. Atemlos stürmten sie ins Haus des Richters, der sich gerade zum
Mittagessen begeben hatte. Vor ihm verströmten eine gebratene Henne und ein
knuspriger Hahn betörende Düfte, die ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen
ließen. Unwirsch wollte er die ungebetenen Geiste sogleich hinausbefördern. „Wenn das wahr wäre, würde ich Euren Sprössling
eigenhändig begnadigen und vom Galgen schneiden! Doch euer diebischer Sohn ist
genauso lebendig wie die Henne und der Hahn vor meinen Augen! Und jetzt raus
hier!" Dann fügte er mit spöttischem Lächeln hinzu: „Wenn die Geschichte
wahr wäre, bei Gott, dann bekämen die Henne und der Hahn Flügel und flögen
davon!“ Kaum hatte er diese Worte gesprochen, verlor er jede Farbe. Vor seinen
Augen begannen die Flügel der gebratenen Tiere zu flattern. Der Hahn krähte und
erhob sich vom Tisch. Dann flogen beide Vögel davon.
Als man den unschuldig Gehängten vom
Pfahl schnitt, atmete Santo Domingo de la Calzada, der Schutzheilige und
Namenspatron des Dorfes, erleichtert auf. Unbemerkt von der Menge hatte er die
Beine des jungen die ganze Zeit auf seinen Schultern
getragen. Zum Gedenken an jene denkwürdigen Ereignisse leben seither in der
Kathedrale von Santo Domingo de la Calzada eine weiße Henne und ein weißer
Hahn. Dem spanischen Tierschutzbund zufolge werden die Vögel alle paar Wochen
ausgetauscht. Sie leben in einem verglasten Käfig gegenüber dem Mausoleum des
Santo Domingo de la Calcada . An manchen
Gottesdiensten meldet sich der Hahn wie eine lebendige Erinnerung an die
damaligen Ereignisse lautstark Zu Wort.
Auch das Kloster von Nájera und die
imposante Kathedrale von Burgos gehen auf ähnliche Geschichten zurück. In
Nájera befand sich König García Sánchez im 11. Jahrhundert mit seinem Falken
auf der Jagd, als der Greifvögel bei der Verfolgung eines Rebhuhns in einem
Forst verschwand. Ihm folgend entdeckte der König einen Höhleneingang aus dem
ein seltsam flackernder Lichtschein drang. Zusammen mit einem Diener trat
García Sánchez in die Höhle — und fuhr erschrocken zurück. In der Höhle stand ein kleiner Altar mit dem
Bildnis der heiligen Jungfrau, zu ihren Füßen
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