2500 Kilometer zu Fuß durch Europa
seiner Seite hat. Ich konzentriere mich vor allem auf die
beiden Franzosen, weil ich noch immer oft an Saquina ,
Laetitia und Pierre denke und die Erinnerung an meine Freunde immer dann wieder
aufflammt, sobald ich Französisch höre, und auf die Österreicherin, weil sie zu
Beginn gesagt hat, dass sie Britney Spears nicht leiden kann, was immerhin ein
Ausgangspunkt für weitere Erörterungen und in jedem Fall ein Pluspunkt ist. Wie
so oft auf dem Weg zieht uns die Gegensätzlichkeit unserer Ansichten und
Lebensarten auch heute in Viana gegenseitig an, und manchmal können wir uns nur
mit Mühe zurückhalten, allzu neugierige Fragen zu stellen. Man kann förmlich
spüren, wie unsere Fragen in Gedanken weitergeführt werden. Die
unausgesprochenen Botschaften bringen wir dabei vor allem durch den jeweiligen Tonfall
zum Ausdruck. Zu den Evergreens auf dem Jakobsweg gehören insbesondere:
-
„ Heute morgen bin ich von XY aus losgelaufen!“ [und
man sieht mir die Anstrengung noch nicht mal an!]
-
„Seid ihr vier zusammen unterwegs?“ [oder seid ihr echte Pilger?]
-
„Ich habe gehört, dass dieses Pflaster wirklich gegen Blasen hilft.“ [und dabei
spreche ich verdammt noch mal aus eigener Erfahrung.]
-
„Sie reisen aber schwer bepackt!“ [Anfänger!]
-
„Hübsche Schuhe haben Sie da an!“ [Anfänger!]
-
„So, Sie sind also unterwegs, um sich selbst zu finden — interessant.“ [aber
Sie werden ja wohl hoffentlich bald aus diesem Alptraum erwachen?]
-
„Auf dem Jakobsweg muss man natürlich auf mancherlei Luxus verzichten.“
[zugegeben: Ich stinke ein bisschen. Aber das tun Sie auch!]
-
„ Heute morgen bin ich als Erste losgelaufen, als noch
alles dunkel war und Tau auf den Feldern lag.“ [und ob ich schon wanderte im
finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn Du bist bei mir. Dein Stecken und
Stab trösten mich.]
-
„Gestern habe ich einen wirklich unterhaltsamen Pilger kennen gelernt.“ [und
führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns...]
-
„Ach, Du meinst diesen Blonden mit den blauen Augen, der aus Deutschland kommt
und ein Buch über den Jakobsweg schreiben will?“ [und vergib uns unsere Schuld
wie auch wir vergeben...]
-
„Hast Du auch diesen Ausblick auf Navarra erlebt, kurz nach Pamplona, als die
Sonne gerade aufgegangen ist?“ [denn Dein ist das
Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.]
In dieser Landschaft, eingebettet in ein
Geflecht uralter Dörfer, umgeben von Kathedralen und den Resten
mittelalterlicher Burganlagen, die sich inmitten goldgelber Getreidefelder dem
Horizont entgegenstrecken, fühle ich mich manchmal um Jahrhunderte zurückversetzt.
Tatsächlich strömt Navarra etwas Altehrwürdiges aus; etwas dauerhaft Schönes
geht von diesem Weg aus, eine unerklärliche Kraft, die umso stärker wird, je
näher man dem bekannten Wallfahrtsort in Galizien kommt. Ich weiß natürlich,
dass das seltsam klingen muss. Ich meine: für len jungen Deutschen, der streng materialistisch erzogen und auf kurzfristige
Bedürfnisbefriedigung getrimmt wurde. Aber zwischen Pamplona und Burgos spüre
ich irgendwie, dass da etwas Neues ist, etwas, das ich bis dahin nie bemerkt
habe. Vielleicht lebt in diesen biblischen Landschaften etwas wie die
Erinnerung an unsere Vorfahren wieder auf. Die alten Legenden füllen sich mit
Leben, und erst in den wüstenähnlichen Hochebenen Navarras wird ein so
unverständliches Verhalten wie der Entschluss Abrahams, seinen eigenen Sohn zu
opfern, wenn nicht nachvollziehbar, so doch erklärbar. Glaubt es mir ruhig,
Leute, es ist nicht die Hitze (obwohl die auch ihren Teil dazu beiträgt) und
ich befinde mich nicht im Delirium oder so. Ich habe Ähnliches von vielen
Pilgern gehört, die wie ich als furchtlose und ziemlich naive Abenteurer
losgegangen sind und von etwas nicht genau Fassbarem, aber eindeutig Fühlbarem
berichteten, etwas Kraftvollem, das von diesem Weg ausgeht und eine Spur in
jedem Pilger hinterlässt, der sensibel hierfür ist. Nach dem Jakobsweg sind
diese Leute nicht mehr dieselben wie zuvor.
Seit Pamplona treffe ich immer häufiger
Jakobswegwanderer, die mir entgegenkommen, Geschichten aus Santiago im Gepäck.
Ich hätte ehrlich gesagt keine Lust, denselben Weg wieder zurückzugehen.
Gleichzeitig wird mir aber klar, dass dies früher schlichtweg eine
Notwendigkeit war: Wer in Santiago ankam, hatte erst die Hälfte des Weges
hinter sich, denn kein Bus, kein
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