2574 - Das Lied der Vatrox
sein, die sich in der Hauptstadt drängten, dennoch kam keine Unruhe auf.
Im Gegenteil, es herrschte eine gelassene, geradezu heitere Stimmung. Geduldig warteten die
Frauen an den Ständen auf die Ausgabe von Essen und Trinken und ließen sich derweil von
traditioneller Musik beschallen, die sie auf den Großkreis am Abend einstimmen sollte.
Die meisten Frauen machten ihr Platz, als Lucba die Straße entlangeilte, denn kein Gast war so
prächtig wie sie gekleidet, das war den Offiziellen vorbehalten. Sicher waren viele neugierig,
doch die Höflichkeit verbot ihnen, Lucba anzusprechen.
Usgan Faahrs Worte zum Abschied aus der Ferne klangen noch in ihren Ohren: »Das ist dein Tag,
Lucba. Auf den du dein erwachsenes Leben lang gewartet hast,für den du so viele Entbehrungen auf
dich genommen hast. Begeh ihn mit dem gebührenden Respekt. Und ich ehre dich, heute, an dem Tag,
der nur der deine ist.«
»Du hast mich immer geehrt, Usgan, ich danke dir.«
»Nun, ich kann nicht bei dir sein. Dies musst du allein bewältigen. Doch du sollst wissen,
dass ich an dich denke, auch wenn du meine Gedanken nicht hören kannst. Und ich nicht die deinen,
was ich manchmal bedauert habe.«
»Lass uns später weiterreden«, hatte Lucba abgewehrt. »Nach dem Großkreis heute Abend wird
alles anders sein. Und dann ... habe ich endlich mehr Zeit für dich.«
»Es war immer Zeit genug«, hatte er gesagt. »So viel, wie es brauchte.«
Meine Inspiration, dachte Lucba, während sie, wie so viele andere, auf die Kuppel
zueilte. Trotz des dichten Gedränges war sie gut vorangekommen; Vatrox waren glücklicherweise
stets sehr diszipliniert und bewegten sich geordnet. Die Männer oft noch mehr als die Frauen, sie
konzentrierten sich unmittelbar auf ein Ziel und wichen niemals davon ab. Allerdings hinderte sie
das auch daran, raffinierte Strategien auszuarbeiten und sich schnell einer Veränderung
anzupassen.
*
Das Hauptportal der Besinnung war weit geöffnet und von einem ständigen Strom
frequentiert, der hinein-, aber auch hinausführte. Durchsagen teilten mit, in welchen Räumen
welche Versammlung stattfand; es wurden freie Plätze in Kleinkreisen, Meditationen, Diskussionen
und Vorträgen angeboten.
Lucba orientierte sich kurz an einer Holo-Anzeigetafel; sie wurde in Raum 1104/B erwartet,
also wandte sie sich nach rechts und hastete den Gang entlang. Sie konnte es kaum mehr
erwarten.
Gleichzeitig mit zwei weiteren Frauen betrat sie den schlichten, fensterlosen Raum, der von
sanftem Licht indirekt beleuchtet wurde. Außer den blauen Matten auf dem Boden gab es keinerlei
Einrichtung.
Die anderen waren schon da und verteilten sich auf ihre Plätze. In der Mitte des Kleinkreises kauerte in Meditationshaltung Zeira Conobim. Lucba kannte sie seit der ersten
Begegnung als Kind, als ihre Aufnahme in den Kreis vorbereitet worden war, und bereits damals war
die Leitende Mentalin eine alte Frau gewesen. Mittlerweile war sie uralt, aufgedunsen und
prallhäutig. In ihrem glatten Gesicht konnte man nicht lesen, so wie sonst in den Falten jeder
Vatrox. Die eine oder andere Frau außerhalb des Kreises hatte schon gestichelt, dass Zeira längst
über ihre Zeit hinaus lebte und deswegen gesichtslos geworden sei.
»Also dann ... bringen wir es hinter uns«, stieß Lucba hervor. Diese letzte Probe noch, dann
musste sie sich auf ihre Präsentation vorbereiten.
Zeiras erblassende Augen richteten sich auf sie. »Ich hatte gehofft, dass du wenigstens heute
die notwendige Ernsthaftigkeit mitbringst«, rügte sie Lucba.
»Ehrenwerte Mentalin, das tue ich«, bekräftigte Lucba. »Stell mich auf die Probe!«
Sie wusste nicht - hatte es nie gewusst -, was die Leiterin des Kreises von ihr erwartete. In
all den Jahren hatte sich ihre Gabe nie besonders ausgeprägt gezeigt, abgesehen davon, dass sie
ein guter Verstärker war. Doch Lucba war stets eine passive Teilnehmerin, die den geistigen
Gedankentanz der Frauen aus der Distanz auf sich wirken ließ.
»Auf die Probe? Dafür ist es zu spät. Heute Abend musst du alles geben, Lucba. Dies hier dient
nur noch der Synchronisierung. Wir müssen gut aufeinander eingestimmt sein, um dem Großkreis so
schnell wie möglich beitreten zu können.«
Zeira war alt und wunderlich, sie hatte immer etwas zu nörgeln.
Schweigend ließ Lucba sich auf ihrer Matte nieder und nahm die gewohnte meditative Haltung
ein, ebenso wie alle anderen Frauen. Der Kreis
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