2590 - Der Tote und der Sterbende
Tiff?«, fragt Mondra.
»Ein wenig.« Ich lächle ihr zu. Sie ist eine feine Beobachterin.
»Du siehst müde aus. Angeschlagen.«
»Das täuscht«, schwindle ich und weiß, dass sie die Lüge durchschaut. »Ich denke nach.«
»Über dies und das?«
»Exakt. Über dies und das.«
»Ihr seid euch beide so ähnlich. Ihr seid sperrige Charaktere. Wortkarg. Oft in euch gekehrt und ein wenig kopflastig.«
»Man hat mir das eine oder das andere Mal gesagt, dass wir wie Brüder seien. Dass ich wie Perrys jüngere Ausgabe wirke.«
»Hättest du denn gern einen älteren Bruder gehabt?«
»Ich hatte eine Schwester. Eileen.«
»Oh. Was ist aus ihr geworden?«
»Sie starb. So, wie sie alle sterben.«
Alle. Alle außer dieser handverlesenen Schar an Glücklichen - oder Unglücklichen -, die einen Pakt mit ES eingegangen waren und Verantwortung übernommen hatten. Die Last einer Verantwortung, die von Jahr zu Jahr, von Jahrhundert zu Jahrhundert größer zu werden droht.
Mondra mustert mich mit prüfenden Blicken und entscheidet dann, dass sie mich mit meinen Überlegungen in Ruhe lassen wird. Sie ist, wie gesagt, eine sehr gute Beobachterin und weiß, wann sie zu reden und wann sie zu schweigen hat.
Sie tritt zu Perry und schmiegt sich eng an ihn. Er zuckt bei der Berührung leicht zusammen. Er war weg, weit weg. In Überlegungen verhangen oder in Erinnerungen.
Vor nicht einmal 24 Stunden waren wir auf der Oberfläche der Scheibenwelt Wanderer und lauschten den Worten der ein wenig aus ihrem Todesdämmer erwachenden Superintelligenz. Sie hatte uns einmal mehr dringlich aufgefordert, endlich das PARALOX-ARSENAL zu finden. Andernfalls würde ES sterben.
Und?
Ich schiebe diesen Gedanken beiseite, den manche Leute als häretisch empfinden, andere wiederum mit Erleichterung zur Kenntnis nehmen würden. ES gilt längst nicht mehr als unumstrittener Übervater der Menschen und schon gar nicht als ihr moralischer Leitstern. Die Superintelligenz ist eine von vielen, und es haftet ihr manchmal sogar so etwas wie Beliebigkeit an.
Doch haben wir denn schon einmal etwas Besseres gefunden? Wollen wir uns denn in die Arme eines anderen Beschützers flüchten, wollen wir einmal mehr den Versuch eines Lebens in absoluter Selbstbestimmung wagen? Sind wir reif und stark genug dafür?
Nein. Wir müssen pragmatisch denken: Es gibt keine Alternative zu ES. Der plötzliche Tod der Superintelligenz hätte jedenfalls unabsehbare Folgen für ihre Mächtigkeitsballung, für die Lokale Gruppe wie für die Fernen Stätten. Und sei es auch nur, dass uns für Jahrhunderte und Jahrtausende Niedergang und Kriege drohen, wie es nach dem Tod von ARCHETIM überliefert wurde. Vom zu erwartenden Eindringen anderer, unter Umständen negativer Superintelligenzen, genau wie Seth-Apophis damals, ganz zu schweigen.
In gewisser Weise ist das sogar eines unserer Hauptprobleme: Trotz der eindringlichen Warnung fällt es uns schwer, den Tod von ES auch nur in Erwägung zu ziehen. Zweifellos ist da sehr viel Verdrängung im Spiel. Und auch fehlende Informationen - niemand weiß, was der Tod von ES tatsächlich bedeuten würde. Nicht zu vergessen die verzweifelte Hoffnung, es dennoch zu schaffen, selbst wenn es nur die Rettung in letzter Sekunde ist.
Würden sich neue Parameter in unserem Verhältnis zueinander aushandeln lassen, sollte es uns gelingen, den Herrscher über die Schmetterlinge zu retten? Wäre ES willens, uns in unserer Entwicklung ein wenig mehr Handlungsspielraum zuzugestehen?
Ich ignoriere all diese Fragen, weil die Aufgaben der nahen Zukunft dringlicher sind. Wir treiben durch die Schneise im Bereich des Restkerns von Anthuresta. Durch jenen rätselhaften Sternensektor, der kaum eine Sonne birgt und von Psi-Materie durchsetzt ist.
Perry unterhält sich leise und eindringlich mit Mondra; so, wie es die beiden während der letzten Stunden immer wieder getan haben. Wir haben auf Wanderer ihr gemeinsames Kind Delorian gesehen. Beziehungsweise das, was einmal aus ihm hätte werden können - oder werden würde. Vielleicht ist es auch nur eine Vision oder ein Trugbild gewesen.
Der Chronist von ES ist ein Menschenkind, unter den merkwürdigsten Umständen gezeugt und als Säugling in einen Strudel aus unüberschaubaren Ereignissen gerissen, die es dem Elternpaar niemals erlaubten, ihr Fleisch und Blut aufwachsen zu sehen.
Mondra und Perry, ein Paar, wie es besser nicht zueinanderpassen könnte, stützt und unterstützt sich, um die
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