2593 - Das Paralox-Arsenal
klares Wasser sprudelte.
Tiff trank aus einem danebengelegenen, hübschen, kristallinen Blütenkelch ... und erkannte,
als seine Sicht sich klärte, den Perianth-Schlüssel!
Zugleich setzten rasende Kopfschmerzen, Übelkeit und Selbstekel ein. Wie hatte er sich nur
solch billigen Verlockungen ergeben können?
Mit zusammengekniffenen Augen sah er sich um. Der Schatten war verschwunden. Aber in die Borke
eines Baumstammes waren frische Schriftzeichen geritzt, in der Sprache der Mächtigen: »Spute
dich! Deine Frist läuft in wenigen Stunden ab.«
Tiff eilte zur Mündung des Tunnels, so schnell ihn die weichen Knie trugen.
*
Der nächste Abschnitt des Langen Gangs war anders beschaffen als die Vorigen.
Es handelte sich, wenn Julian Tifflor richtig mitgezählt hatte, um das zehnte Teilstück, also
das Mittelstück des Jahrmillionentunnels: Halbzeit. Bald - sofern der Ausdruck bald gerechtfertigt war - hatte er eine Hälfte der Strecke hinter, die andere Hälfte vor sich.
In dieser Richtung. Rechnete er freilich den Rückweg hinzu, war noch nicht einmal ein
Viertel bewältigt ... Statt sich über den Teilerfolg zu freuen, fiel Tiff in abgrundtiefe
Verzweiflung.
Jäh überwältigte ihn die Erkenntnis, dass er sich zu viel zugemutet hatte. Selbst wenn keine
Zelle seines Körpers alterte, selbst wenn ihn die Vitalenergie, mit welcher der Tunnel geflutet
war, dauerhaft heilte und physisch konservierte - Tiffs Psyche litt und verfiel zusehends.
Wie sonst ließ sich erklären, dass er an etlichen Ausstülpungen des Ganges vorbeiging, bis er
deren Existenz überhaupt bewusst wahrnahm?
Falls sie tatsächlich existierten. Oder war er nun doch wahnsinnig geworden und erschuf sich
selbst in gewissen Abständen »Auszeit-Höhlen«?
Es handelte sich um unterschiedlich große Kavernen. Miniaturuniversen extrem geringen
Durchmessers? Nie richtig aufgeblühte, im Wachstum stecken gebliebene Knospen, Verunreinigungen
auf der Ährenspindel ... Vielleicht auch dem vierten Zeitkorn verwandt, wo der ehemalige Orbiter
Banifour Crumplei sein kärgliches Dasein gefristet hatte ...
Tiffs Gedanken verhedderten sich. Der Kater, der Traumentzug und die Ödnis des Tunnelinneren
forderten ihren Tribut.
Einem spontanen Impuls folgend, bog Tifflor in die nächste Kaverne ab. Er legte sich auf den
weichen, moosartigen Boden und schlief ein.
*
Wie war das möglich?!, schoss ihm durch den Kopf, nachdem er wieder erwacht und
aufgesprungen war, als hätte ihn ein elektrischer Schlag getroffen.
Die im Langen Gang fluktuierende Vitalenergie bewirkte, dass sein Stoffwechsel ausgesetzt war.
Tiff musste, konnte weder atmen noch essen, trinken oder schlafen.
Aber offensichtlich galt das nicht für diese Kavernen! Er horchte in sich hinein. Er fühlte
sich gut, ausgeruht wie ewig lange nicht. Und er erinnerte sich dunkel, dass er geträumt hatte;
nicht halluziniert, sondern richtig geträumt.
Wie war das möglich? Ach, egal.
Pfeif darauf!
Einem geschenkten Esel schaute man nicht unter den Schweif oder wie auch immer das Sprichwort
lautete.
Erst zögerlich, dann geradezu beschwingt kehrte Julian Tifflor in den Jahrmillionentunnel
zurück. Wenn ihm das Schicksal schon ein klein wenig Linderung spendierte, würde er sie dankbar
annehmen. Und zwar, ohne sinnlos darüber zu grübeln, aus welcher Verkettung von Zufällen oder
Einflüssen diese Auszeit-Höhlen resultierten.
Die nicht enden wollende Wanderung war auch so noch Marter genug. Aber immerhin, die Aussicht
auf ein kurzes, normales Schläfchen alle paar Jahrtausende, auf eine einzige Nacht
innerhalb des immer gleich tristen Tages verschaffte Tiff Erleichterung und Auftrieb.
Er nutzte jede Gelegenheit, jede Kaverne, die sich ihm bot. Von einigen zweigten Seitengänge
ab. Aus gutem Grund hütete Tiff sich, sie zu betreten ...
Dachte er.
*
Einmal aber, plötzlich, bemerkte er, siedend heiß erschrocken, dass er soeben aus einem
solchen Nebengang gekommen war!
Sosehr er sich das Gehirn zermarterte - Tiff konnte sich nicht erinnern, was er darin gesucht,
getan, erlebt hatte. Er zog nur blanke Nieten. Sein Gedächtnis versagte.
Ging es nun doch zu Ende mit ihm? Wie sonst sollte er diesen unbegreiflichen Vorfall bewerten
denn als Indiz dafür, dass seine geistige Zerrüttung unaufhaltsam voranschritt?
Noch eine weitere Entwicklung bereitete ihm Sorge: Der Diamantstaub, der sich wie Raureif auf
seiner Körperoberfläche
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