2593 - Das Paralox-Arsenal
niederschlug, bedeckte mittlerweile beide Arme vollständig, dazu Teile
der Hüfte und des rechten Oberschenkels.
Das Zeug ließ sich nicht mehr abschütteln, sondern breitete sich auch unter der Montur weiter
aus. In seinem Gesicht ertastete Tiff ebenfalls winzige, kristalline Verhärtungen.
Was geschah mit ihm? Falsch: Was war schon längst mit ihm geschehen?
Er sehnte die nächste höhlenartige Ausbuchtung herbei. Schlafen, vielleicht auch träumen
... Das zwingt uns still zu stehen. Das ist die Rücksicht, welche Elend lässt zu hohen Jahren
kommen. Denn wer ertrüge der Zeiten Spott und Geißel?
Wo hatte er diese Zeilen gelesen, vor Millionen von Jahren? Bei wem? Rilke?
Nein, das stammte aus keinem Sonett, sondern aus einem Drama. William Shakespeare: Hamlet.
Genau. Der Prinz von Dänemark, der Irrsinn vorgaukelte und deshalb erst recht verrückt wurde
...
»Nur, dass die Furcht vor etwas nach dem Tod, dem unentdeckten Land, von des
Bezirk kein Wand'rer wiederkehrt, den Willen irrt. Dass wir die Übel, die wir haben, lieber
ertragen, als zu unbekannten fliehen.«
Als habe sich in seinem malträtierten Gehirn eine Schleuse geöffnet, überfluteten Zitate
Julian Tifflors Bewusstsein. Die Zeit ist aus den Fugen, bereit sein alles, der Rest hingegen
Schweigen ...
Wie das auf seine Situation passte! Gehend, gehend, unermüdlich gehend schlug sich Tiff mit
den Fäusten gegen die Schläfen. Ob's edler im Gemüt, der Pfeile Spitzen des wütenden Geschicks
zu dulden oder, sich waffnend gegen eine See von Plagen, durch Widerstand sie enden? Sterben,
schlafen - nichts weiter!
Nichts weiter. Nicht weiter marschieren, Fuß vor Fuß setzend, sondern aufgeben.
Einsicht zeigen. Alles fallen lassen. Den Rucksack mit den Perianth-Schlüsseln, das dumme
Gewehr, die Last der Verantwortung einfach hinwerfen.
In der nächsten Kaverne, schwor sich Tiff, würde er sich hinlegen, lang ausstrecken und zur
ewigen Ruhe begeben. Seinen Geist aushauchen. Abschließen, mit allem, was war.
Er konnte nicht mehr. Er hatte sein Möglichstes versucht, bis zur Neige hergegeben, was in ihm
steckte. Wie sich herausstellte, war das zu wenig.
Tja, Pech! Er war eben nur Julian Tifflor, nicht Perry Rhodan.
Obwohl er bezweifelte, dass Perry viel weiter gekommen wäre. Niemand, niemand, kein
Mensch, kein Terraner, biologisch unsterblich oder nicht, vermochte den Jahrmillionentunnel zu
durchschreiten.
Man musste akzeptieren, dass es Dinge gab, die mehr als eine Nummer zu groß für einen waren.
Und dann, wenn man diese Einsicht gewonnen hatte, musste man die Konsequenzen ziehen.
Endlich tauchte die nächste Kaverne auf. Tiff stieß einen Jauchzer aus, verfiel in lockeren
Trab und lief darauf zu.
Dies würde sein Grab werden. In diese Höhle würde er sich legen, um zu schlafen, wegzudämmern
und zu sterben.
Aber da lag schon jemand.
*
Tiff strauchelte über dürre Beine.
Das Insektenwesen war schwer verletzt. Getrocknetes schwarzgrünes Blut bedeckte seinen
Kampfanzug und die sichtbaren Teile des Panzers. Als Tiff sich, ohne nachzudenken, zu ihm
niederbeugte und, in eine altvertraute Routine verfallend, vorsichtig die Wunden untersuchte, kam
der Fremde zu sich.
Eine Ahnung von Glanz kehrte in die Facettenaugen zurück. »Julian?«
Erst glaubte Tiff an eine akustische Täuschung. Woher sollte der Sterbende seinen Namen
kennen?
»Julian Tifflor, bist du das?«
»Ja. Ja, ich bin es. Aber ich wüsste nicht ... «
»Du siehst, mein Freund, zuletzt haben sie mich leider doch noch erwischt.«
»Kann ich dir irgendwie ...?«
»Helfen? Nein, Zukünftiger, mir kann nichts und niemand mehr helfen.« Die Stimme bröckelte.
Zuckungen durchliefen den harten und doch so fragilen Leib.
Ratlos legte Tiff die Hand auf den anthrazitfarbenen Panzer. Wer war der Fremde? Was verband
sie beide?
»Dennoch«, röchelte der Insektoide. »Ich scheide aus diesem Leben in der Zuversicht, dass die
Macht des Schwurbunds von Chundarfall gebrochen wird. Für die Bewohner des Temporalen Meridians
rückt die Freiheit in greifbare Nähe. Das ist auch dein Verdienst. Danke für alles, Julian, und
gute Weiterrei... «
Der Körper bäumte sich auf. Aus dem Mund quoll grünlicher Schaum. Die Augen flackerten und
erloschen.
Tifflor ließ den Leichnam aus den Armen gleiten und bettete ihn behutsam auf den harten Boden.
Gern hätte er ihn begraben. Jedoch fehlte ihm das nötige Werkzeug.
Er hatte keinen
Weitere Kostenlose Bücher