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bewusst war. Es ging ihm schlecht, er hielt das für Jetlag, achtete nicht darauf. Ein Institutskollege, ein junger Mann aus Hermosillo, der erst kürzlich seine Promotion abgeschlossen hatte, fragte ihn, was ihn bewogen habe, die Universität von Santa Teresa der Universität von Barcelona vorzuziehen. Ich hoffe, es war nicht das Klima, sagte der junge Professor. Das Klima hier scheint mir ausgezeichnet, erwiderte Amalfitano. Nein, ich bin ganz Ihrer Ansicht, Professor, sagte der junge Mann, ich sagte das nur, weil nämlich die, die wegen des Klimas kommen, krank sind, und ich hoffe zutiefst, dass Sie es nicht sind. Nein, sagte Amalfitano, nicht des Klimas wegen, mein Arbeitsvertrag in Barcelona war ausgelaufen und Frau Professor Pérez hat mich überredet, hier zu arbeiten. Er hatte Silvia Pérez in Buenos Aires kennengelernt und danach noch zweimal in Barcelona getroffen. Sie war es, die sich darum gekümmert hatte, das Haus anzumieten und ein paar Möbel zu kaufen, für die ihr Amalfitano noch vor Erhalt seines ersten Monatsgehalts das Geld zurückgab, um kein Missverständnis aufkommen zu lassen. Das Haus lag in der Siedlung Lindavista, einem Viertel der gehobenen Mittelschicht mit ein- oder zweigeschossigen, von Gärten umgebenen Gebäuden. Der Gehweg, durchbrochen von den Wurzeln zweier riesiger Bäume, war schattig und hübsch, obwohl die Häuser hinter manchen Zäunen allmählich verfielen, als wären ihre Bewohner überhastet geflohen und hätten nicht einmal Zeit gehabt, ihren Besitz zu verkaufen, woraus man schließen durfte, dass es entgegen den Beteuerungen von Frau Pérez nicht schwierig war, in dieser Gegend eine Wohnung zu finden. Der Dekan des Fachbereichs Philosophie und Geisteswissenschaften, den Frau Professor Pérez ihm an seinem zweiten Tag in Santa Teresa vorstellte, gefiel ihm nicht. Er hieß Augusto Guerra und besaß die fahl glänzende Haut fetter Menschen, dabei war er eher dünn und drahtig. Er machte einen wenig selbstsicheren Eindruck, suchte das aber mit einer Mischung aus bildungsbürgerlicher Nonchalance und schneidigem Auftreten zu kaschieren. Auch mit seinem Glauben an die Philosophie war es nicht weit her, entsprechend wenig versprach er sich von der Lehre, da das Fach angesichts der gegenwärtigen und künftigen Wunder, mit denen die Naturwissenschaften aufwarteten, auf verlorenem Posten stünde, sagte er, woraufhin Amalfitano ihn höflich fragte, ob er über die Literatur genauso dächte. Aber nein, woher denn, die Literatur hat natürlich Zukunft, die Literatur und die Geschichte, sagte Augusto Guerra, denken Sie nur an die Biographien, früher wurden Biographien weder verlegt noch verlangt, und heute liest alle Welt nur noch Biographien. Biographien wohlgemerkt, nicht Autobiographien. Die Leute brennen darauf, fremde Leben kennenzulernen, die von berühmten Zeitgenossen, von Menschen, die Ruhm und Erfolg erlangt haben oder fast erlangt hätten, und sie brennen darauf, zu erfahren, was die alten chincuales dafür getan haben, um vielleicht noch etwas von ihnen zu lernen, obwohl sie nicht bereit sind, sich einem ähnlichen Drill zu unterziehen. Amalfitano erkundigte sich höflich nach der Bedeutung des Wortes chincuales, das er noch nie gehört hatte. Wirklich? sagte Augusto Guerra. Ich schwöre es Ihnen, sagte Amalfitano. Daraufhin rief der Dekan nach Frau Pérez und sagte: Silvita, kennen Sie die Bedeutung von chincuales? Frau Professor Pérez hängte sich bei Amalfitano ein, als wären sie ein Paar, und gab ehrlich zu, dass sie nicht die leiseste Ahnung habe, obwohl ihr das Wort an sich nicht völlig unbekannt sei. Was für Banausen, dachte Amalfitano. Wie alle Worte unserer Sprache, sagte Augusto Guerra, hat das Wort chincuales viele Bedeutungen. Im Prinzip bezeichnet es die roten Pünktchen, die die Stiche von Flöhen oder chinches auf unserer Haut zurücklassen. Diese Stiche verursachen Juckreiz, und die armen Leute, die darunter leiden, hören logischerweise gar nicht mehr auf, sich zu kratzen. Daraus folgt eine zweite Bedeutung, die ruhelose Leute bezeichnet, die sich winden und sich kratzen, die ständig in Bewegung sind und ihre unfreiwilligen Zuschauer ganz nervös machen. Wie die europäische Krätze, könnte man sagen, wie die Krätzekranken, von denen es in Europa nur so wimmelt und die sich diese Krankheit in öffentlichen Toiletten oder in den grauenvollen französischen, italienischen und spanischen Latrinen holen. Und von dieser Verwendung leitet sich die
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