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die Universität fuhr, trat Amalfitano aus der Hintertür, um den letzten Schluck Kaffee zu trinken und einen Blick auf das Buch zu werfen. Kein Zweifel: Das Papier, auf dem man es gedruckt hatte, war gut, und der Einband widerstand unerschütterlich dem Ansturm der Natur. Rafael Diestes alte Freunde hatten gute Materialien gewählt für diese Art der Ehrung und des etwas voreiligen Abschieds, für das Adieu alter aufklärerischer Männer (oder Männer mit der Patina der Aufklärung) an die Adresse eines anderen alten aufklärerischen Mannes. Amalfitano dachte, dass die Natur im nordöstlichen Mexiko, speziell hier in seinem öden Garten, nicht viel hergab. Den einen Morgen, während er auf den Bus wartete, der ihn in die Universität bringen sollte, nahm er sich fest vor, Wiese oder Rasen zu säen, außerdem in einem auf solche Dinge spezialisierten Geschäft ein schon etwas größeres Bäumchen zu kaufen und auf beiden Seiten Blumen zu pflanzen. Anderntags dachte er, dass jede Arbeit, die man in diesen Garten steckte, um ihn angenehmer zu gestalten, letztlich vergebens wäre, da er nicht vorhatte, lange in Santa Teresa zu bleiben. Man müsste gleich wieder gehen, dachte er, doch wohin? Und dann dachte er, was hat mich nur bewogen, hierher zu kommen? Warum habe ich meine Tochter in diese vermaledeite Stadt gebracht? Weil es einer der letzten Winkel auf der Welt war, die ich noch nicht kannte? Weil ich mich im Grunde danach sehnte, zu sterben? Dann betrachtete er Diestes Buch, Geometrisches Vermächtnis , das mit zwei Klammern befestigt unbeirrt auf der Leine hing, und er bekam Lust, es abzunehmen und vom ockerfarbenen Staub zu säubern, der es hie und da schon bedeckte, traute sich aber nicht.
Manchmal, wenn er die Universität von Santa Teresa verließ oder auf seiner Veranda saß oder die Seminararbeiten seiner Studenten durchsah, erinnerte sich Amalfitano an seinen Vater, der ein großer Boxliebhaber gewesen war und die Ansicht vertrat, die Chilenen seien samt und sonders Schwuchteln. Amalfitano, damals zehn, sagte: Aber Papa, wenn wer schwul ist, dann doch die Italiener, denk nur an den Zweiten Weltkrieg. Amalfitanos Vater sah seinen Sohn bei diesen Worten sehr ernst an. Sein eigener Vater, Amalfitanos Großvater, stammte aus Neapel. Und er selbst hatte sich immer mehr als Italiener denn als Chilene gefühlt. Wie dem auch sei, er redete liebend gern über Boxen, oder besser gesagt: Er redete liebend gern über Boxkämpfe, von denen er nur die obligatorischen Berichte in Fachzeitschriften und im Sportteil gelesen hatte. Auf diese Weise konnte er über die Brüder Mario und Rubén Loayza, beides Neffen von Tani, vom Leder ziehen, über Godfrey Stevens, einen schwulen Lackaffen ohne echten Punch, über Humberto Loayza, ebenfalls ein Neffe von Tani, mit einem guten, aber ungenauen Punch, über Arturo Godoy, Schlitzohr und Märtyrer, über Luis Vicentini, Italiener aus Chillán, ein fescher Bursche, dem jedoch sein trauriges Los, in Chile geboren zu sein, zum Verhängnis wurde, über Estanislao Loayza, genannt Tani, der in den Vereinigten Staaten auf saudumme Weise um die Weltmeisterkrone gebracht worden war, als der Schiedsrichter ihm in der ersten Runde auf den Fuß trat und Tani sich dabei den Knöchel brach. Kannst du dir das vorstellen? sagte Amalfitanos Vater. Ich kann es mir nicht vorstellen, sagte Amalfitano. Na los, tänzle mal um mich herum, und ich trete dir auf den Fuß, sagte der Vater von Amalfitano. Lieber nicht, sagte Amalfitano. Vertrau mir, Mensch, dir passiert schon nichts, sagte Amalfitanos Vater. Ein andermal, sagte Amalfitano. Nein, jetzt gleich, sagte sein Vater. Daraufhin begann Amalfitano mit erstaunlicher Behändigkeit um seinen Vater herumzutänzeln, täuschte von Zeit zu Zeit eine linke Grade oder einen rechten Haken an, und plötzlich kam sein Vater etwas vor und trat ihm auf den Fuß, und da war alles gelaufen, Amalfitano stand still oder suchte den Clinch oder wich aus, aber irgendwie brach er sich den Knöchel. Ich glaube, der Schiedsrichter hat das mit Absicht getan, sagte Amalfitanos Vater. Man kann doch nicht jemandem mit einem Tritt auf den Fuß den Knöchel verhunzen. Dann folgten die Beleidigungen: Die chilenischen Boxer seien allesamt schwul, die Bewohner dieses Scheißlandes seien Schwuchteln, quer durch die Bank, ließen sich bereitwillig für dumm verkaufen, ließen sich bereitwillig den Schneid abkaufen, ließen bereitwillig die Hosen runter, wenn einer sie nur bitte, die
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