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2666

2666

Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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zerschlagener Flaschen entlockte, zarte Reflexe in Grün, Braun und Orange, als wäre die Brustwehr um diese Uhrzeit keine defensive Brustwehr mehr, sondern hätte sich in eine dekorative Brustwehr verwandelt, zum Schein wenigstens, winziges Element einer Choreographie, die auch der mutmaßliche Choreograph, der Feudalherr des Nachbarhauses, nicht einmal in seinen elementarsten Teilen, die Stabilität, Farbe, offensive oder defensive Gestaltung seines Artefakts betrafen, zu erkennen vermochte. Oder als würde auf der Brustwehr eine Schlingpflanze ranken, dachte Amalfitano, bevor er das Fenster schloss.
    In jener Nacht kehrte die Stimme nicht noch einmal zurück, und Amalfitano schlief sehr schlecht, schreckte immer wieder hoch, als würde jemand ihm Arme und Beine zerkratzen, und war schweißgebadet von Kopf bis Fuß, doch um fünf Uhr früh legte sich seine Beklemmung, und im Traum erschien ihm Lola, die ihm aus einem Park mit hohen Gittern zuwinkte (er stand auf der anderen Seite), außerdem zwei Gesichter von Freunden, die er seit Jahren nicht gesehen hatte (und wahrscheinlich nie wieder sehen würde), und ein Zimmer voll dick verstaubter, aber deswegen nicht weniger großartiger philosophischer Bücher. Zur selben Stunde fand die Polizei von Santa Teresa die Leiche einer weiteren jungen Frau, halbherzig vergraben auf einer Grundstücksbrache in einem Außenbezirk der Stadt, und ein kräftiger Wind aus Westen rannte gegen die Flanken der Berge im Osten an, fegte auf seinem Weg durch Santa Teresa Staub, Zeitungsseiten und herumliegende Kartons vor sich her und brachte Bewegung in die Wäsche, die Rosa im Hintergarten aufgehängt hatte, als würde er, der so junge, so energische und kurzlebige Wind, Amalfitanos Hemden und Hosen anprobieren und in die Unterwäsche seiner Tochter schlüpfen und einige Seiten im Geometrischen Vermächtnis lesen, als wollte er sehen, ob dort nicht etwas stünde, das ihm von Nutzen sein, das ihm die interessante Landschaft der Straßen und Häuser, durch die er galoppierte, erklären oder ihm Aufschluss über sich selbst als Wind geben konnte.
    Um acht Uhr morgens schleppte sich Amalfitano in die Küche. Seine Tochter fragte, ob er gut geschlafen habe. Eine rhetorische Frage, die Amalfitano mit einem Achselzucken beantwortete. Als Rosa loszog, um für den geplanten Ausflug aufs Land einzukaufen, machte er sich eine Tasse Tee mit Milch und ging damit ins Wohnzimmer. Er zog die Vorhänge auf und fragte sich, ob er in der Lage sei, sich an der von Frau Professor Pérez vorgeschlagenen Exkursion zu beteiligen. Er kam zu dem Schluss, dass er es war, dass der Vorfall von letzter Nacht vielleicht die Reaktion seines Körpers auf den Angriff eines autochthonen Virus oder eine beginnende Grippe darstellte. Bevor er unter die Dusche ging, maß er seine Temperatur. Fieber hatte er keins. Zehn Minuten lang stand er unter der Brause und dachte über sein Verhalten in der vergangenen Nacht nach, für das er sich schämte, das ihn sogar erröten ließ. Von Zeit zu Zeit hob er den Kopf und hielt das Gesicht direkt in den Strahl. Das Wasser schmeckte anders als in Barcelona. Es kam ihm in Santa Teresa viel zähflüssiger vor, als würde es hier nicht geklärt, ein stark mineralhaltiges Wasser mit erdigem Geschmack. In den ersten Tagen machte er es sich zur Gewohnheit - eine Gewohnheit, die er mit Rosa teilte -, sich die Zähne doppelt so oft zu putzen wie in Barcelona, weil er den Eindruck hatte, seine Zähne würden sich braun färben, als würde ein dünner, aus den unterirdischen Flüssen Sonoras stammender Film die Zähne überziehen. Mit der Zeit jedoch war er wieder dazu übergegangen, sich nur drei- oder viermal am Tag die Zähne zu putzen. Rosa, sehr viel mehr auf ihr Äußeres bedacht, putzte sie weiterhin sechs- bis siebenmal täglich. In seinem Seminar sah er einige Studenten mit ockerfarbenen Zähnen. Frau Professor Pérez hatte weiße Zähne. Einmal hatte er sie danach gefragt: Ob es stimme, dass das Wasser in diesem Teil von Sonora die Zähne braun färbe. Professorin Pérez wusste es nicht. Es ist das erste Mal, dass ich davon höre, sagte sie und versprach, sich zu erkundigen. Ist nicht wichtig, sagte Amalfitano hastig, ist nicht wichtig, nimm an, ich hätte nichts gesagt. In der Miene von Professor Pérez hatte er eine leichte Irritation wahrgenommen, als hätte sich hinter seiner Frage eine andere verborgen, eine in hohem Maße beleidigende und verletzende Frage. Man muss seine Zunge im

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