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letzte Bedeutung ab, die Guerristische Bedeutung sozusagen, die die Weltenbummler und Abenteurer des Geistes bezeichnet, jene, die nicht stillhalten können, geistig. Aha, sagte Amalfitano. Großartig, sagte Frau Professor Pérez. Bei dieser improvisierten Zusammenkunft im Zimmer des Dekans, die Amalfitano als Begrüßungsempfang ansah, waren auch drei Professoren des Instituts und Guerras Sekretärin anwesend, die eine Flasche kalifornischen Champagner öffnete und jedem einen Pappbecher und Salzgebäck reichte. Später kam der Sohn von Guerra hinzu, ein etwa fünfundzwanzigjähriger Bursche mit schwarzer Sonnenbrille, Trainingsanzug und stark gebräunter Haut, der die ganze Zeit in einer Ecke mit der Sekretärin seines Vaters plauderte und hin und wieder amüsiert zu Amalfitano herüberschaute.
Am Vorabend des Ausflugs hörte Amalfitano zum ersten Mal die Stimme. Vielleicht hatte er sie schon früher gehört, auf der Straße oder im Schlaf, und sie einer fremden Unterhaltung oder einem schlechten Traum zugeschrieben. Aber an diesem Abend hörte er sie deutlich, und diesmal bestand kein Zweifel, dass sie sich an ihn richtete. Anfangs dachte er, er sei verrückt geworden. Die Stimme sagte: Hallo Óscar Amalfitano, bitte erschrick nicht, es geschieht nichts Schlimmes. Amalfitano erschrak, stand auf und lief zum Zimmer seiner Tochter. Rosa schlief friedlich. Amalfitano machte Licht und prüfte, ob das Fenster fest verschlossen war. Rosa wachte auf und fragte, was mit ihm los sei. Nicht was los sei, sondern was mit ihm los sei. Mein Gesicht muss furchtbar aussehen, dachte Amalfitano. Er setzte sich auf einen Stuhl und sagte, er sei zu nervös, er habe geglaubt, Geräusche zu hören, er bereue es, sie in diese verkommene Stadt gebracht zu haben. Mach dir keine Sorgen, es ist alles in Ordnung, sagte Rosa. Amalfitano gab ihr einen Kuss auf die Wange, strich ihr übers Haar, ging und schloss die Tür hinter sich, löschte aber nicht das Licht. Nach einer Weile, während der er durchs Wohnzimmerfenster auf den Garten und die Straße und die reglosen Zweige der Bäume blickte, hörte er, wie Rosa das Licht ausknipste. Geräuschlos ging er durch die Hintertür hinaus. Er hätte gern eine Taschenlampe gehabt, aber egal. Draußen war niemand. Auf der Leine hing das Geometrische Vermächtnis , daneben ein paar Socken von ihm und Hosen von seiner Tochter. Er lief einmal ums Haus, auf der Veranda war auch niemand, er trat an den Zaun und inspizierte von dort aus die Straße, sah aber nur einen Hund, der gemächlich in Richtung Avenida Madero zur Bushaltestelle trabte. Ein Hund trabt zur Bushaltestelle, dachte Amalfitano. Von dort, wo er stand, glaubte er erkennen zu können, dass es kein reinrassiger, sondern irgendein Mischlingshund war. Ein quiltro, dachte Amalfitano. Er lachte innerlich. Diese chilenischen Worte. Diese Risse in der Psyche. Dieses Eishockeyfeld von der Größe der Provinz Atacama, auf dem man nie einen gegnerischen Spieler zu Gesicht bekam und nur ab und zu einen der eigenen Mannschaft. Er ging zurück ins Haus. Schloss ab und überprüfte die Fenster, entnahm der Küchenschublade ein Messer mit kurzer, kräftiger Klinge, das er neben eine Geschichte der deutschen und französischen Philosophie von 1900 bis 1930 legte, und setzte sich wieder an den Tisch. Die Stimme sagte: Glaub nicht, dass es mir leicht fällt. Wenn du glaubst, es fiele mir leicht, hast du dich hundertprozentig getäuscht. Es fällt mir eher schwer. Zu neunzig Prozent. Amalfitano schloss die Augen und dachte, jetzt werde er endgültig verrückt. Er hatte keine Beruhigungsmittel im Haus. Er stand auf. Er ging in die Küche und klatschte sich mit beiden Händen Wasser ins Gesicht. Mit dem Küchenhandtuch und den Ärmeln trocknete er sich ab. Er versuchte, sich an den Namen zu erinnern, der in der Psychiatrie das akustische Phänomen bezeichnete, das er gerade erlebte. Er ging zurück in sein Arbeitszimmer, und nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, setzte er sich mit gesenktem Kopf, Hände auf dem Tisch, wieder hin. Die Stimme sagte: Ich möchte, dass du mir verzeihst. Ich möchte, dass du dich beruhigst. Ich möchte, dass du das nicht als Eingriff in deine Freiheit begreifst. In meine Freiheit?, dachte Amalfitano erstaunt, während er zum Fenster sprang, es öffnete und eine Hälfte seines Gartens und die Mauer oder glasgespickte Brustwehr des Nachbarhauses und die Reflexe betrachtete, die das Licht der Straßenlaternen den Scherben
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